REZENSION: Jürgen Weibler – Digitale Führung. Beziehungsgestaltung zwischen Sinnesarmut und Resonanz. Roman Herzog Institut 2021.
Der Autor ist Top-Experte zum Thema Führung im deutschsprachigen Raum und Professor an der Fernuniversität in Hagen. Aus seiner Feder stammt das renommierte Lehrbuch zum Thema „Personalführung“ (inzw. 4. Aufl.). Für den Think Tank des ehemaligen Bundespräsidenten, das Roman Herzog Institut, hat er schon den spannenden, wegweisenden Text „Entzauberung der Führungsmythen“ (2013) verfasst. Nun widmet er sich der Frage, wie Führung in der Digitalisierung funktionieren kann. Eine spannende Frage, denn die Corona-Pandemie hatte im Frühling 2020 „Homeoffice“ über Nacht zu einer weitverbreiteten Arbeitsform werden lassen. Seitdem wird gestritten: Geht das (gut)? Was sind Defizite und Nebenwirkungen? Worauf muss man achten? Und so weiter.
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Jürgen Weibler führt seine Leserschaft in sieben Kapiteln durch das Thema. Der Text ist leicht lesbar, da im Vortragsstil gehalten. Trotzdem ist er nicht flach, immer wieder wird auf theoretische Konzepte Bezug genommen und einschlägige Literatur zitiert, die sich im Literaturverzeichnis gelistet findet. Und – gute Nachricht – das Büchlein ist kostenfrei als PDF beim RHI erhältlich.
Die Agenda
Führen in Zeitenwenden: Der Titel des ersten Kapitels nimmt die digitale Revolution als Phase der Verunsicherung in den Blick. Verunsicherung zu reduzieren war immer schon die Aufgabe der Führung. Was wäre, wenn Führung in dieser Situation ihre alte Aufgabe nicht erfüllen, sondern vielmehr selbst Anlass zur Sorge geben würde? Wenn sie in digitaler Form nicht nur anders, sondern schlechter würde? Der Autor tritt angesichts dieser beunruhigenden Frage einen Schritt zurück und beleuchtet zunächst den Kontext, die sogenannten neuen Arbeitswelten (Kap. 2). Diese sind einerseits durch innovative Technologien geprägt, andererseits aber auch durch die tiefe Sehnsucht nach neuen Rahmenbedingungen (New Work). Menschen suchen Sinn und tragfähige Beziehungen. Führung ist da gefordert, sie ist aber nicht immer in leiblicher Präsenz möglich, bedient sich folglich der Informations- und Kommunikationstechnologie. Führung im/als Spagat.
„Wovon reden wir bei Führung überhaupt? Darüber, dass eine Person den formalen oder informellen Anspruch erhebt, die eigenen Vorstellungen zu denen von anderen zu machen.“ In Kapitel 3 (Die Essenz von Führung) wird klar, Führung benötigt Akzeptanz, weil sie eine Beziehung ist. „Führung liegt immer im Auge des Betrachters, hier des Mitarbeitenden.“ Führung ist also eine Beziehung und muss als solche gestaltet werden. Alles andere wäre Zwang. Oder Leitung – die technokratische Variante. Beides bringt nur suboptimale Ergebnisse. Anders Führung – wie zahlreiche Forschungsarbeiten zeigten. Mit einem kleinen argumentativen Schlenker erklärt Weibler, warum die klassische Unterscheidung zwischen mitarbeiter- und aufgabenorientierter Führung zu kurz springt: Man kann ja beides nicht trennen.
Wie schafft es eine Führungskraft nun, Akzeptanz zu bekommen? Im vierten Kapitel geht es um die Voraussetzungen für gelingende Führungsbeziehungen. Inzwischen hat es sich herumgesprochen, dass eine eigenschaftsorientierte Betrachtung (Was zeichnet eine gute Führungskraft aus?) weit weniger als „die halbe Miete“ ausmacht, ausmachen kann, letztlich in einer Sackgasse landet: Die Führungskraft als Superman oder -woman. Ins gegenteilige Extrem zu verfallen (Die Mitarbeiter als Supermen), löst das Problem nicht. Der Verzicht auf diese Aufrüstung heißt heute „Postheroische Führung“. Wir müssen einen qualitativ anderen Weg gehen. Und unser Autor war schon (s.o.) einen Schritt weiter: Führung als Beziehung.
Führung als sozialer Prozess
Wie funktioniert das nun? Führung ist ein sozialer Prozess. Der Volksmund würde sagen: „Man redet miteinander.“ Das ist richtig, aber noch zu unpräzise. Wie geschieht solches optimalerweise? Und in welchem Kontext? Man kann diese Fragen umformulieren als Frage nach einer guten Kommunikation. Oder – mit Hartmut Rosa – als die nach der Resonanzfähigkeit. Schaffen es die beiden, die da miteinander sprechen, sich gegenseitig ans Klingen zu bringen? Gibt es ein Echo, das beim anderen ankommt und etwas bewegt? Finden die beiden eine gemeinsame Wellenlänge? Verstehen sie sich und können sie potenzielle Missverständnisse ausräumen, miteinander lernen?
Was passiert nun, wenn sich Führung in virtuellen Räumen ereignet und bewähren muss? Damit beschäftigt sich das fünfte Kapitel. Und es wird schnell klar, die Forschung hat schon lange vor der Corona-Pandemie dazu substanzielle Erkenntnisse gewonnen. Sie wurden aber nicht unter dem euphemistischen Stichwort „Homeoffice“, sondern unter Telearbeit, virtuelle Teamarbeit und so weiter veröffentlicht. Maßgeblicher Input stammt aus der Medienpsychologie. Es wurde die deutliche Zunahme von Missverständnissen berichtet. Manche cancelten medienvermittelte Kommunikation auch generell als defizitär ab. Heute sind wir da weiter: Die virtuelle Kommunikation ist nicht generell schlechter, sie ist anders. Man muss sich also darauf einstellen, es lernen. Unterlässt man das, wird sie schlechter. Interessant sind aber auch die Befunde aus der Teamarbeit: Die Herausbildung von personenbezogenem Wissen über die einzelnen Teammitglieder (sogenanntes transaktives Gedächtnis) im Team dauert länger. Gleichfalls ist es schwieriger, gemeinsam geteilte mentale Modelle aufzubauen. All dies macht Führung in virtuellen Kontexten eindeutig herausfordernder als in der gewohnten Präsenzform.
Verlusterfahrungen in der digitalen Kommunikation
Und deshalb kommt es auch regelmäßig zu Verlusterfahrungen in der digitalen Kommunikation (Kap. 6). Man ist nicht mittendrin, sondern immer außen vor. Die Technologie allein kann das nicht kompensieren. Der Verweis auf das arbeitspsychologische Konzept der soziotechnischen Systemgestaltung fehlt leider im Text des Autors. Allerdings weist er auf etliche weitere Verlusterfahrungen (z.B. fehlende Mimik) hin, um dann die grundlegende Rolle der Leiblichkeit für die Kommunikation unter dem Stichwort Embodiment anzusprechen. Das ist nicht nur richtig, sondern auch bemerkenswert und löblich. Denn dieser Erkenntnisstand hat sich in der wissenschaftlichen Theoriebildung bislang noch zu wenig niedergeschlagen. Menschen auf „Talking Heads“ zu reduzieren ist genauso abstrus wie sie als rein rationale Wesen zu betrachten. Das wäre vergleichbar damit, dem Blinden von der Farbe zu erzählen. Womit ich nicht Blinde diskriminieren, sondern ausdrücken möchte, dass man sich folglich nicht wundern muss, wenn man so keine farblich brillanten Ergebnisse schafft. Soziale Bindung entsteht durch Nähe, so drückt es Autor Weibler aus, doch die bekommt man durch die Technologie nicht hergestellt.
Was tun?
Teams können erfindungsreich werden, um die soziale Bindung zu stimulieren: Digitales Frühstück oder After-Work, digitale Teamspiele… da läuft schon so einiges. Zugleich steckt man mit solchen Aktionen aber auch immer wieder den Finger in die Wunde: „Räumliche Distanz schafft soziale Distanz und soziale Distanz schafft auf Dauer individuelle Distanz zu Personen und zur Organisation.“ Sich immer wieder, wenn möglich, auch physisch zu treffen, wäre folglich die bessere Option. Diese Einsicht sollte dann nicht in den platten Umkehrschluss münden, eine „Romantisierung des Führungsmodus ‚Präsenz‘“. Es macht vielmehr deutlich, dass auch Führung im Präsenzmodus voraussetzungsreich ist und nicht „automatisch“ gelingt. Denn Führung ist Beziehungsarbeit.