KRITIK: Bei der HSBC musste ein Kandidat für eine Managementposition 25 Gespräche führen, bis das Unternehmen sich endlich durchringen konnte, ihn einzustellen. Bei der Telekom braucht man sieben Runden, bei Beiersdorf sechs.
Auch bei Google glaubte man lange Zeit, dass möglichst viele Leute den potenziell neuen Kollegen zu Gesicht bekommen haben sollten, ehe er eingestellt wurde. Doch nun hat man das Verfahren verschlankt, vier Runden sollen genügen. Weitere Gespräche, so die Begründung bei dem streng zahlengetriebenen Unternehmen, bringen keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn. Das Problem der vielen Runden: Sie sind aufwändig, teuer und stellen die Kandidaten vor eine lange Geduldsprobe. Mit dem Risiko, dass sie vorzeitig abspringen, dann war der Aufwand vergebens.
Die Experten in dem Beitrag im Handelsblatt (Bewerbungsmarathon) erklären, warum viele Unternehmen sich so lange Zeit lassen. Die Entscheidungsstrukturen seien immer komplizierter, es gibt keine klaren Hierarchien mehr, bei denen der Chef entscheidet, sondern mehr und mehr Matrixorganisationen, wo alle mitreden wollen.
Zudem herrsche häufig eine Konsenskultur, bei der niemand das Risiko übernehmen möchte, sondern sich absichern will. Wenn sich der Kandidat nicht bewährt, könne nachher niemand sagen, er sei ja nicht gefragt worden.
Der Vorteil, wenn der Kandidat durchhält: Die Abbruchrate bei den eingestellten Bewerbern ist geringer, außerdem werden diejenigen, die zugestimmt haben, zudem das Ihre dazu beitragen, dass er richtig unterstützt und gefördert wird.
Ich verstehe das Problem nicht wirklich. Meine Erfahrung zeigt auch, dass die zusätzlichen Meinungen nach dem vierten oder fünften Eindruck keine neuen Erkenntnisse bringen. Von daher kann man tatsächlich auf sie verzichten. Andererseits ist es doch prima, wenn viele sich einen Eindruck verschaffen und die Entscheidung mittragen.
Nur das mit dem langen Prozess ist mir schleierhaft: Kann der Kandidat nicht einen ganzen Tag kommen, sich im Unternehmen bewegen und mit vielen Leuten sprechen? Da schafft er locker fünf Gespräche. Hängt man einen zweiten Tag dran, müsste doch reichlich Gelegenheit geschaffen worden sein, um ihn kennenzulernen und umgekehrt. Dann kann am dritte Tag die Entscheidung getroffen werden.
Wo ist das Problem? Ich vermute mal, es liegt nicht an der Anzahl der Gespräche, sondern an den Abstimmungsprozessen. Da müssen wichtige Leute am Ende gefragt werden, und diese nehmen sich nicht an einem bestimmten Tag die Zeit, mit dem Bewerber zu reden. Dazu müssen Termine koordiniert werden und zuvor alle möglichen Rituale eingehalten werden.
Was völlig seltsam ist: Ein Personalberater erklärt, dass Konsensentscheidungen häufig dem „Mainstream“ folgen, und es deshalb wünschenswert wäre, wenn es „mehr entscheidungsstarke Chefs und Manager“ gäbe („Es geht um Absicherung“). Die dann kraft ihres Amtes verkünden: „Herr X ist es, und damit basta“? Als ob dann Mitarbeiter mit Ecken und Kanten eingestellt würden. Seit wann das denn? Es würden Mitarbeiter ausgewählt, die dem entscheidungsstarken Manager möglichst ähnlich sehen.
Meine Erfahrung mit Gruppenprozessen ist, dass gerade hier auch mal andere Aspekte an einem Kandidaten gewürdigt und überhaupt erst gesehen werden – die Chancen, dass auch mal Menschen mit anderen Profilen eingestellt werden, steigt eher.