KRITIK: Ich verstehe ja, dass neue Situationen neue Lösungen erfordern. Ich finde es aber immer wieder erstaunlich, wie schnell man mit neuen Begriffen um die Ecke kommt und dann in Windeseile, natürlich wissenschaftlich begründet, weiß, wie man es richtig macht. So auch wieder bei „Hybrid Work“. Was hat sich eigentlich so gravierend geändert, seit so viele Mitarbeiter im Homeoffice sitzen und das offenbar gar nicht so schlecht finden? Vier Dinge sind offensichtlich:
- Eine Führungskraft kann nicht mal so eben vorbeischauen und kontrollieren, ob der Kollege auch wirklich arbeitet.
- Alle Beteiligten stellen fest, dass eine Anwesenheit vor Ort gar nicht unbedingt notwendig ist, damit der Laden läuft – was in der Tat zu der Erkenntnis führt, dass man dann ja auch für jeden x-beliebigen Arbeitgeber tätig sein kann. Also muss man ihnen mehr bieten als einen Computer und einen Bürostuhl und hin und wieder mal eine Pizza nach Hause liefern lassen.
- Sodann fehlt der eher zufällige Kontakt, die Begegnung irgendwo im Gebäude, aus der sich Gespräche entwickeln und hieraus wiederum Ideen.
- Und schließlich: Es fällt deutlich schwerer, die Grenze zwischen Privatleben und Beruf zu ziehen. Wenn der Arbeitsplatz im Wohnzimmer aufgebaut ist, dann gibt es keinen Grund mehr, zu bestimmten Zeiten den Rechner einzuschalten. Aber eben auch viele Gründe, ihn gar nicht abzuschalten.
3 Dinge sind es
Was genau bedeutet das für Führungskräfte? Eine Langzeitstudie aus St. Gallen von 2016 bis 2022, nach der jeder Sechste seine Führungskraft nicht mehr spürte, führte zu der Erkenntnis, dass es drei Dinge sind, die Führungskräfte berücksichtigen müssen, wenn ihnen die Mitarbeiter nicht von der Fahne gehen sollen (Hybrid Leadership: unbossed, beidhändig, emotional):
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- Unbossing: Gemeint ist loszulassen, ohne in Laissez-faire zu verfallen. Aktive Führung ist im Hybrid Work verstärkt erwünscht. Und das geht so:
- Beidhändig: Die Führungskraft muss einerseits ergebnisorientiert führen, also Ziele und Prioritäten definieren. Gleichzeitig muss sie Innovationen fördern und eine entsprechende Atmosphäre schaffen – was eher im Präsenzmodus gelingt.
- Emotionsarbeit: Weil die Gefahr droht, dass die Mitarbeiter zu Hause vereinsamen, muss die Führungskraft mehr Wert auf den emotionalen Teamzusammenhalt legen. Das funktioniert, indem man Mitarbeiter animiert, in virtuellen Meetings zu erzählen, wie es ihnen ergeht, woran sie gerade arbeiten, wobei sie Hilfe benötigen. Und beim Onboarding neuer Mitarbeiter darauf achten, dass es überhaupt persönliche Treffen gibt, die Neuen das Team kennen lernen und umgekehrt.
Hier fällt wieder der Hinweis auf die transformationale Führung: Führungskräfte sollen inspirieren, Vorbild sein und Empathie zeigen – sich für den Einzelnen wirklich interessieren und individuell auf ihn eingehen.
Was lernen wir hier? Dass Führungskräfte das tun sollten, was sie schon immer tun sollten: Weniger kontrollieren, dafür sorgen, dass alle wissen, wozu sie arbeiten und was von ihnen erwartet wird, für Austausch sorgen und sich für die Menschen interessieren. Siehe da, die alten „Erfolgsrezepte“ scheinen auch in den neuen Zeiten angesagt zu sein. Bleibt die Hoffnung, dass Führungskräfte nun allmählich gar nicht mehr anders können als sich wie beschrieben zu verhalten.
Auch eine Frage der Kultur
Aber es geht noch weiter: Neben dem, was auf die einzelne Führungskraft zukommt, müssen auch die Unternehmen etwas tun, nämlich die passende Kultur fördern. Dabei geht es vor allem um zwei Bereiche (Hybrid-Work-Kultur: zwischen Sinngemeinschaft und Caring):
- Eine Sinngemeinschaft fördern: Gemeint sind Dinge wie eine gemeinsame Leistungsambition, ein geteilter Purpose, Vertrauen und psychologische Sicherheit, Diversity im Sinne von Integration verschiedener Präferenzen, Arbeitsstile und Persönlichkeiten. Letztlich geht es um einen produktiven Umgang mit Unterschieden und der Umsetzung des Mottos: „Jedem das Seine„.
- Caring: Unternehmen müssen Wert auf gesunde Führung legen, darauf achten, dass die Beschäftigen nicht in die Beschleunigungsfalle tappen (was in hybriden Umgebungen sogar seltener vorkommt als früher, sieh an). Und außerdem Resilienz, ein Growth Mindset und Boundary Management fördern – man könnte auch sagen „Belastbarkeit, Neugier und die Fähigkeit, sich abzugrenzen“.
Erkennen Sie hier etwas, das Unternehmen nicht tunlichst schon immer hätten anstreben sollen?
Nun ist es ja leicht, immer wieder festzustellen, dass eine Erkenntnis alles andere als neu ist. Es ist auch völlig okay zu erläutern, worauf man als Unternehmen und Führungskraft achten sollte, wenn Mitarbeiter die meiste Zeit im Homeoffice sitzen. Mich stört, wenn all das als eine neue wissenschaftliche Erkenntnis verkauft wird, statt deutlich zu machen: „Unternehmen, nehmt endlich ernst, was wir schon lange wissen und seit Ewigkeiten wieder und wieder vermitteln! Jetzt mehr denn je …“