INSPIRATION: Ob ein:e Mitarbeiter:in auf der Arbeit die berühmte Extrameile geht, neudeutsch „Organizational Citizenship Behavior (OCB)“ zeigt, ist eine individuelle Entscheidung. So lautet die Definition: Die Organisation kann solches Extra-Verhalten nicht fordern und auch nicht sanktionieren. Wird es jedoch gezeigt (Hilfsbereitschaft, Gewissenhaftigkeit, Unkompliziertheit, Eigeninitiative, Rücksichtnahme), fördert es nicht nur das Funktionieren der Organisation, es wirkt wie eine Ressource, auf unvorhergesehene Situationen flexibel reagieren zu können. Eine Organisation kann sich folglich glücklich schätzen, wenn Mitarbeiter:innen tendenziell bereit zu OCB sind (Going the Extra Mile).
Theoretisch erklärt man OCB mit der Theorie des sozialen Austauschs. Es ist ein Geben und Nehmen. Hier wirkt das Prinzip der Gegenseitigkeit, was auch erklären kann, dass ein positiver Rückkopplungsprozess entstehen kann. Andererseits wird allerdings auch ein Schuh draus: Durchtriebene Führungskräfte, die nach dem Motto „da geht noch was …“ auf die Idee kommen, Mitarbeiter unter Druck setzen und ausbeuten zu wollen, mögen das vielleicht in Zeiten eines angespannten Arbeitsmarkts schaffen durchzusetzen. Doch spätestens, wenn sich das Wetter wieder aufklart, schlägt dann die Mitarbeiterschaft zurück. Es entwickelt sich ein negativer Rückkopplungsprozess. Dann kann es sein, dass man das Unternehmen motivational gegen die Wand fährt.
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Nichts ohne gute Führung
Das lenkt den Blick darauf, dass eine gute Führungsbeziehungsqualität für OCB wichtig ist. Unter dem Konstrukt Leader-Member Exchange (LMX) versammeln sich vier Dimensionen: Zuneigung, Loyalität, wahrgenommenes Engagement und fachlicher Respekt zwischen Führungsperson und Geführten. Letztlich müssen Mitarbeiter eine organisationale Unterstützung für ihr Engagement wahrnehmen (Anerkennung durch Gehalt, Beförderung oder Arbeitsplatzsicherheit).
Die Forschungsfrage war nun, wie wirkt sich eine Krise – wie Covid 19 – auf OCB aus? Zeigt sich hier OCB als Ressource in der Krise? Oder erodiert es aufgrund des eingeschränkten sozialen Austauschs? Die Befragung einer Gelegenheitsstichprobe von 5.000 Studierenden erbrachten einen Rücklauf von 256 Datensätzen, was erbärmlich wenig ist. Darin überwogen die weiblichen Teilnehmerinnen. Die Ergebnisse der Studie bestätigen die postulierten positiven Zusammenhänge – auch in der Pandemie:
- Eine höhere Führungsbeziehungsqualität (LMX) geht signifikant mit einem stärkeren Organizational Citizenship Behavior (OCB) einher.
- Je stärker eine Person sich von der Organisation unterstützt fühlt, desto ausgeprägter (hochsignifikant) ist ihr freiwilliges Arbeitsverhalten zum Vorteil der Organisation.
- Die Qualität der Führungsbeziehung und die wahrgenommene organisationale Unterstützung erscheinen gleichfalls in einen starken signifikanten Zusammenhang.
Das sind gute Nachrichten, denn in der Pandemie wurde ja vielfach befürchtet, die Mitarbeiter:innen würden die Situation des Homeoffice ausnutzen und in den Müßiggang übergehen.
Kritik
Und doch bin ich unzufrieden mit dieser Studie. Erstens handelt es sich hier mal wieder um eine der unzähligen Querschnittsuntersuchungen, deren wissenschaftlichen Mehrwert ich als Systemiker schon mal per se skeptisch gegenüberstehe. Die Korrelationen werden dann schnell kausal überinterpretiert. Zweitens hadere ich mit der konzeptionellen Kleinstaaterei in der Psychologie: Es tummeln sich da allerlei Konstrukte mit begrenzter Reichweite im Feld, die dann gegeneinander in Stellung gebracht werden. Ich vermisse da schlicht einen Ansatz mit größerer Reichweite und Erklärungskraft. So hätte man in diesem Beispiel auch die Konzepte der Transformationalen Führung, Motivation, Organisationsklima, Vertrauen oder Psychological Safety ins Spiel bringen können. Tja, wenn die Wissenschaft keinen robusten gemeinsamen Nenner findet, müssen wir uns nicht über konzeptionellen Wildwuchs in der Praxis und Beraterlatein wundern.