KRITIK: Während der Personalentwickler immer noch auf das Lernen in Seminaren und Kursen setzt, erklären die Experten, dass der Großteil des Lernen informell, am Arbeitsplatz, stattfindet. Angeblich ist die Relation 70 für informelles, 10 für traditionelles und 20 für das Lernen von und mit Kollegen ideal.
Wenn das so ist, so die Schlussfolgerung, sollte der Personalentwickler mehr Zeit darein investieren, den Arbeitsplatz mit zu gestalten, so dass das informelle Lernen unterstützt wird. Gemeint ist u.a. dafür zu sorgen, dass „Zeit zum Reflekterieren und Ausprobieren von neuen Methoden“ bleibt (Informelles Lernen: Die Lösung aller Probleme?).
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Ein Vertreter dieser Ansicht, Charles Jennigs, behauptet, wenn man diese Methode einführt, würde dies zu Mehrkosten führen. Bei der Methode geht es darum, den Mitarbeitern Hilfsprogramme (Perfomance Support Tools) zur Verfügung zu stellen, mit denen sie sich dann während des Job neue Kenntnisse und Fähigkeiten aneignen.
Ist das wirklich neu, dass wir am Arbeitsplatz lernen? Wenn ich an meinem Rechner sitze und eine Funktion suche, dann warte ich doch nicht bis zum nächsten angebotenen Seminar, sondern probiere herum (informelles Lernen) oder frage einen Kollegen. Und wenn ich einen Konflikt mit einem Kunden habe, dann probiere ich verschiedene Lösungsansätze aus oder frage meinen Vorgesetzten oder Kollegen, was ich tun kann. Da hilft es mir auch nicht, wenn drei Monate später ein Konfliktseminar ansteht.
Allerdings, da gebe ich dem „Experten“ recht: Wenn ich in meinem Umfeld Kollegen wüsste, die in einer Sache besonders geschickt und versiert sind oder mir über ein Netzwerk der Zugang zu diesen Kollegen erleichtert würde, wäre das schon hilfreich. Und wenn es eine Art Hilfefunktion für alle möglichen Situationen gibt, die ich aufrufen kann, dann müsste ich nicht lange selbst herumexperimentieren.
Aber ist das nicht auch ein zweischneidiges Schwert? Gerade dieses selbst Ausprobieren, Experimentieren und Scheitern führt doch erst dazu, dass ich lerne und das Gelernte auch irgendwann beherrsche. Wenn ich weiß, dass ich jederzeit jemanden fragen kann, der es mir erklärt – probiere ich dann überhaupt noch selbst aus? So wie ich im Auto ein geniales Support-Tool namens Navigationsgerät habe, das mich dorthin führt, wo ich hin will – neues Wissen über alternaitve Routen erwerbe ich damit nicht. Anders als früher, als ich mir die Strecken auf der Karte selbst rausgesucht habe.
Vermutlich ist es wie immer: Die Mischung macht’s. Mag sein, dass die Weiterbildungsexperten sich zu lange einzig und allein mit Seminaren beschäftigt haben. Mehr noch: Dass sie unter Lernen dem klassischen Bild von „Jemand steht vorne und verkündet neues Wissen, der Rest versucht, es sich anzueignen!“ gefolgt sind. Und als ihnen allmählich klar wurde, dass davon wenig hängen bleibt, fingen sie an, über Transfer nachzudenken. Dabei, so Jennings, kann man Wissen nicht wirklich transferieren, höchstens anderen helfen, sich Wissen aufzubauen (Digital lernen: Langsam läuftt’s).
Ein anderer Experte ist der Meinung, dass all diese Versuche, Menschen weiter zu bilden, bei den meisten vergebliche Liebesmüh sind. Er vertritt die 20-30-50-Formel, nach der nur 20% der Menschen bereit sind, neue Erfahrungen zu machen, darüber zu reflektieren und Schlüsse daraus zu ziehen – sprich zu lernen. 30% könnten das in Maßen und würden es zum Teil schaffen, mit der richtigen Unterstützung. Die restlichen 50 hätten kein Interesse am Lernen, da müsse man sich fragen, ob es sich überhaupt lohnt, in sie zu investieren.
Ein ziemlich pessimistisches Menschenbild, oder? Wobei ich sogar glaube, dass ein Großteil der Menschen, wenn man sie fragt, ob sie noch etwas Neues lernen wollen, vermutlich wirklich ablehnt. Weil für viele „Lernen“ aus der Schulzeit extrem negativ besetzt ist. Jede Wette, dass diejenigen, die angeblich so lernresistent sind, je nach Situation, Anforderung und Gestaltung der Umgebung ebenso willig und fähig sind, sich Neues anzueignen. Ob sich der Aufwand lohnt oder man diese Mitarbeiter lieber aussortiert, ist eine Entscheidung, die auf der Top-Management-Ebene getroffen werden muss. Und vielleicht auch etwas mit sozialer Verantwortung zu tun hat.