KRITIK: „Peer Recruiting überträgt einige agile Arbeitsweisen in den Bereich der Mitarbeiterbeschaffung und -auswahl. Mit einem hohen Maß an Selbstverantwortung, Selbstorganisation und ausgeprägten Entscheidungsbefugnissen rekrutieren Teams zukünftige Kollegen selbst.“ Heilig‘s Blechle, eine solche Ansage macht neugierig – und lässt sogleich den Bullshit Detector anspringen …
Denn die Autoren (Peer Recruiting) legen die berühmte Latte gleich ziemlich hoch auf und versprechen, dass die Personalauswahl so besser würde als zuvor. Eine verwegene Absicht, wenn man sich erinnert, dass die Best Practice, die in der DIN 33430 niedergeschrieben ist, nun schon 20 Jahre am Start ist. Die Autoren dieses Beitrags scheinen die Norm aber nicht zu kennen. Stattdessen laufen sie ganz keck unter der Latte durch und servieren eine haarsträubende Argumentationskette: Ihr Ziel ist „eine bessere soziale, kulturelle und auch fachliche Passung des Bewerbers zum Unternehmen,“ wogegen gar nichts zu sagen ist, das ist gleichfalls das Ziel klassischen Vorgehens.
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Doch empfehlen sie als Methode, dieses Ziel zu erreichen, „dass eben genau diejenigen Menschen besser herausfinden und entscheiden können, ob diese Passung gegeben ist, die in Zukunft mit dem neuen Kollegen zusammenarbeiten werden.“ Das ist erstens naiv, weil hier eine HR-Kompetenz bei den „einfachen“ Mitarbeitern unterstellt wird, die normalerweise nicht vorhanden ist. Und zweitens unterstellt man hier, dass HR in der Vergangenheit ihren Job verdammt schlecht gemacht hat. Weil sie die soziale, kulturelle und fachliche Passung gar nicht betrachtet hätte.
DIN 33430
Die DIN 33430 als state of the art wurde entwickelt, um die Qualität in der Personalauswahl zu verbessern. Man wollte weg von „Schmidt sucht Schmidtchen“, von Auswahl per Sympathie, Parteibuch oder geteilter Begeisterung für denselben Fußballverein. Man wollte, dass der Personalauswahl ein professioneller Prozess zugrunde liegt, der mit der Erstellung eines belastbaren Anforderungsprofils beginnt. Zweifellos hat ein solches Profil Anforderungen an die Fach-, an die Sozial- als auch die Selbstkompetenz zu enthalten. Informationen dazu erhält man natürlich vor Ort, wo denn sonst? Es ist auch keine neue Idee, Mitarbeiter von vor Ort in Personalauswahlprozesse zu involvieren. Insofern fragt man sich: Wo ist das Problem?
Es besteht kein Grund, eine solche anspruchsvolle Aufgabe komplett an Laien (!) zu delegieren. Genauso wenig wie man andere anspruchsvolle Aufgaben komplett an Teams überträgt (Buchführung, Einkauf, Justitiariat). Das kann höchstens teilweise sinnvoll sein, wie man das schon seit der Einführung teilautonomer Gruppenarbeit kennt. Dass man nun agil arbeitet, kann kein Argument sein, einem Blankoscheck vergleichbar, mit dem man alles, was sich bisher bewährt hat, mit einem Handstreich und der Bemerkung, es sei „alt“, vom Tisch zu fegen.
Die Autoren schildern nun ihren Ansatz (Peer Recruiting) am Beispiel zweier Unternehmen: Die codecentric AG ist ein IT-Dienstleister, die Metro AG ein großes Handelsunternehmen. Bei codecentric sieht sich HR nicht im Lead, sondern als gleichwertiges Mitglied im Team, dem Mitarbeiter von vor Ort angehören. Über die Einstellung entscheidet das Team, wobei jedes Teammitglied ein Vetorecht hat. Bei der Metro liefert HR den Teams vor Ort immerhin Templates für eine Anzeige. HR soll auch eignungsdiagnostisches Handwerkszeug vermitteln.
HR macht sich klein
Die Autoren benennen auch Risiken und Nebenwirkungen ihres Vorgehens. Dazu gehören eine Prozessverlangsamung sowie eine zeitliche Beanspruchung der Teams, aber auch „handwerkliche Fehler“ wie eine Abnahme der Diversity in den Teams. Da schau an! Interessant lesen sich dann noch die Ausführungen zur neuen Rolle von HR: Weg vom Administrator hin zum Enabler. Wie oft hat man solches schon gelesen? Woran liegt es, dass diese Klage immer noch erschallt? An den schlecht ausgebildeten HR-Mitarbeitern, die die DIN 33430 nicht kennen? Oder an den Unternehmen, die dann doch lieber nach Gutsherrenart Personalauswahl betreiben wollen?
Vielleicht wird andersherum ein (pragmatischer) Schuh draus: Beide Unternehmen kaprizieren sich beim Thema Peer-Recruitung auf die IT-Abteilung. Dies lässt einen weniger offensichtlichen Grund für die beschriebene Vorgehensweise in den Blick geraten: IT-Experten sind Mangelware. Man hofiert sie also mit allen nur erdenklichen Mitteln. Und nimmt vermutlich jeden, der fachlich einigermaßen kompetent erscheint. Abstriche macht man dann bei den anderen Kompetenzbereichen (gelten die Datenknechte nicht eh als Nerds?). Zum „Spiel“ gehört dann offenbar auch, dass sich HR klein macht, kleiner als nötig und angebracht. Und man wird einen Preis dafür bezahlen: Mismatching. Darüber spricht man selbstverständlich nicht öffentlich. Doch vielleicht kommen auch wieder bessere Zeiten … Zeiten, in denen man nicht jeden, der bei drei nicht auf den Bäumen ist, einstellt, weil man händeringend die Digitalisierung stemmen muss.