INSPIRATION: Wir leben in Zeiten von Social Media. Manche finden das großartig. Andere verfluchen es. Und Dritte untersuchen, was Menschen dabei erleben, wie sie damit umgehen – und auch, welche Nebeneffekte das hat.
Was waren das doch für langweilige Zeiten, als man sich noch Briefe schrieb, Anzeigen in Zeitungen schaltete oder darauf wartete, dass einen eine Redaktion endlich entdeckte und veröffentlichte! Vorher war man ein Niemand, „einer unter 80 Millionen“, doch dann hatte man es geschafft: Man wurde wahrgenommen. Man war wichtig. Tärää!
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Dann kamen Social Media. Und es drehte sich der Wind: „Die erste Motivation der Menschen im Netz war Information. Dann haben sie bemerkt, man kann sich dort auch darstellen, Spuren hinterlassen. Und jetzt merken die Menschen, man kann über die Netze mächtig werden.“ Peter Kruse, der legendäre und leider früh verstorbene Visionär, brachte das schon im Jahr 2010 auf den Punkt, indem er die Netzlogik beschrieb: Steigende Vernetzungsdichte, steigende Spontanaktivität und kreisende Erregungen im Netzwerk. „The full catastrophe,“ um mit Alexis Zorbas zu sprechen.
Die Netzwerklogik
Doch eben die Chance für jeden, an den journalistischen Gatekeepern vorbei Aufmerksamkeit zu erlangen. Und während die einen versuchen, ihr Coaching-Business bei LinkedIn zu vermarkten. Werden andere gleich Influencer. Der Traumjob: Vom Niemand zum gutverdienenden Internet-Star. Die perfekte Karriere! Manchmal aber auch nicht. Der sehenswerte Kinofilm The triangle of sadness sät sarkastisch Zweifel.
Was wäre, wenn es andersherum wäre? Wenn sich nicht die Influencer der gigantischen Maschine Social Media zu ihrem Vorteil bedienen würden, sondern genau andersherum? Die Autorin (Der Algorithmus, meine Arbeit und Ich) wollte es genauer wissen. Sie forscht schon etwas länger an dem Thema und schlägt gleich mit einer hinterhältig-unverschämten Frage auf: „Macht Social-Media Menschen zu Ich-bezogenen Vollidioten?“ Aber mal der Reihe nach. Sprechen wir über YouTube und seine Algorithmen.
YouTube – die Videoplattform
Wobei YouTube mehr ist als eine Videoplattform. YouTube ist in den Google-Konzern (Alphabet) eingebettet. Und sogleich lernen wir, wie die Algorithmen trainiert werden: „Diese Algorithmen müssen mithilfe von gesammelten Datensätzen eingelernt werden, die u. a. aus der Spracheingabe von Google Voice Search stammen, die User getätigt haben. Somit betätigen sich User indirekt am Einlernen der Algorithmen und künstlichen Intelligenz.“ Darauf muss man erst einmal kommen! Otto-Normal-User – wie ich – sind offensichtlich naiv.
Oder Captchas: Angeblich sollen Roboter so dumm sein, dass sie die Bilderrätsel, die man ab und an lösen muss, um nachzuweisen, dass man ein Mensch ist, nicht knacken können. Es ist genau umgekehrt. Wir trainieren die KI in der Bilderkennung. Die Plattform kategorisiert damit Videos.
Als Content Creator:in auf YouTube
Will man auf YouTube haupt- oder nebenberuflich mit Content Geld verdienen, kommt man um das YouTube-Partnerprogramm kaum herum. Dann kann man an Werbeeinnahmen beteiligt werden. Dafür muss man sich aber auf die „Richtlinien für werbefreundliche Inhalte“ einlassen. Und ein Google-AdSense-Konto einrichten. Denn AdSense stellt mit Algorithmen passende Werbung für User bereit. Und Werbekunden wiederum nutzen GoogleAds, ein Dienst, der als eine Art Mittler zwischen Werbetreibenden und Webseitenbetreibenden fungiert. So läuft der Deal. Wobei es auch noch spezielle Affiliate-Programme gibt, also direkte Werbeverträge.
Damit das Ganze richtig gut funktioniert, muss Google ein Interesse daran haben, Usern hochspezifischen Content zu präsentieren und dafür zu sorgen, dass User lange vor Ort bleiben – damit auch die entsprechende Werbung ausgespielt werden kann. Das regelt die Personalisierung. „Durch die personalisierte Startseite werden jedem User bestimmte Videos vorgeschlagen, die den Interessen, welche aus alten Suchanfragen, Klick-Verhalten und geschauten Videos hervorgehen, entsprechen.“ Es findet ein Ranking statt. Über die Zeit entstehen durch die Beteiligung der Nutzer:innen so die Algorithmen. – Grundsätzlich nach dem Motto: mehr desselben.
Manchmal gibt es technische Störungen. Mit Werbepartnern vereinbarte Inhalte können dann nicht pünktlich hochgeladen werden. Oder es werden die gängigen Aufrufzahlen nicht erreicht. Solches produziert finanzielle Verluste – für die sog. Creator.
Auswirkungen auf die Arbeit von YouTuber
Im Jahr 2016 wurden vor allem Suchalgorithmen auf YouTube umstrukturiert. Seitdem regiert dort KI (maschinelles Lernen). Die Creator mussten sich umstellen, die KI „füttern“ und mehr arbeiten. Und so langsam drehte sich das Blatt: Die Creator äußerten sich zwar positiv über ihre Freiheiten und die Unabhängigkeit im Job. Zugleich beklagten sie jedoch Probleme im Zeitmanagement und der Work-Life-Balance. Viele erlebten sich zunehmend als Getriebene. Und den Funktionen und Wirkungsweisen der Algorithmen ausgeliefert. In der Fachliteratur nennt man das das „Autonomieparadox“. Man fühlt sich frei, ist es aber nicht. Man knechtet sich selbst – teilweise bis zum Burnout.
Doch für den Burnout der Creator fühlt sich YouTube nicht zuständig. Das sei Privatsache. Und so erleben sich die Creator oft verdammt allein. Schon werden Rufe nach Arbeitsschutz und Gewerkschaftsgründung laut. Doch wie will man das gegen einen internationalen Konzern durchsetzen?
Und was hat das mit uns zu tun?
An der Stelle kann es für Trainer, Berater und Coaches interessant sein, über den eigenen Umgang mit Social-Media nachzudenken. Denn die Prinzipien der Plattformen ähneln sich. Der Druck, zu publizieren und oft zu publizieren sowie in einer bestimmten Art und Weise zu publizieren kann mächtig werden – auch auf LinkedIn. Heftige Kritik wird inzwischen auch über TikTok laut. Der Plattform wird vorgeworfen, dass sich deren Algorithmus derartig auf Jugendliche „einschießen“ kann, dass diese stundenlang vor dem Bildschirm versinken. Manche nennen die App ein „Rabbit Hole“ und sprechen von Sucht (bpb).
Oder nehmen wir Dating-Plattformen: Eine aktuelle Studie der Psychologin Wera Aretz untersucht das Burnout-Syndrom im Dating-Kontext. „Menschen, die Dating-Apps exzessiv nutzen, berichten, dass sie in einen Zustand geraten, in dem sie wie Roboter durch die Profile swipen und sich nicht mehr auf das Gegenüber einlassen,“ erläutert sie im Interview mit der F.A.Z.. Mit „Dating-Burnout“ umschreibt sie ein Gefühl der emotionalen Erschöpfung, das mit einer zunehmenden Depersonalisation (bis hin zum Zynismus) und dem Gefühl reduzierter Leistung einher geht. Betroffene bewerten ihr Engagement und dessen Ergebnisse fast nur noch negativ. Ihre Studie hat – vorsichtig argumentierend – unter den Usern 14 Prozent mit Burnout-Symptomen erkannt. Bei aktuell zirka 20 Millionen Deutschen, die Onlinedating nutzen, wären ungefähr drei Millionen Menschen betroffen. Das ist nicht wenig – und mit Sicherheit Anlass genug, sehr nachdenklich zu werden.