2. Juli 2024

Management auf den Punkt gebracht!

Pragmatismus der reflektierten Art

INSPIRATION: Hierzulande ist Organisationsentwicklung (OE) immer kritisiert worden: Sie speise sich bloß aus Erfahrung und dem Einsatz mehr oder weniger sinnvoller Methoden, doch es fehle ihr die Metatheorie. Deshalb sei sie auch anfällig für Beraterlatein, Legendenbildung und Tricksereien. Ein solches Urteil mag wohlfeil sein, ist aber oberflächlich und wird der Sache nicht gerecht. Die Autoren in der OrganisationsEntwicklung (30 Jahre Organisationsentwicklung) leiten ihre Leserschaft durch eine historische Tour d’horizon, die äußerst klarsichtig ist. Jeder OE-Beraterin und jeder -Berater, aber auch Führungskräfte sollten diesen Text gelesen haben. Es erspart die Lektüre gar manchen Lehrbuchs.

„Die OE war eine amerikanische und englische ‚Erfindung‘, die in den späten 40er-Jahren ihren Anfang nahm,“ beginnen die Autoren, die Geschichte der OE zu rekapitulieren, die wir hier in groben Zügen nachzeichnen wollen. Kurt Lewin, der aus Nazi-Deutschland emigrierte Psychologieprofessor in den USA, und der Psychoanalytiker Wilfred Bion in UK sind als Gründerväter zu nennen. Während man in UK am Tavistock Institute den soziotechnischen Systemansatz entwickelte, entstand in der Tradition Lewins die Aktionsforschung. Beide Richtungen verbindet die Idee, dass Organisationen mehr als Maschinen sind. Das war und ist ein klarer Gegensatz zu Vorstellungen des Taylorismus oder der Bürokratie: Organisationen sind soziale Systeme.


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Prozessberatung

Deshalb setzte sich auch in den 1960er-/70er-Jahren die Vorstellung einer Prozessberatung durch, denn schon damals wurden Organisationen als komplex verstanden. Die erste Phase einer Theorieentwicklung konzipieren die Autoren daher auch als pragmatisch – weil die Wurzeln in der amerikanischen, nicht in der europäischen oder deutschen Wissenschaftskultur liegen. Zur gleichen Zeit wird OE jedoch auch von den frühen systemtheoretischen Konzepten beeinflusst (Organisation als offenes System). Denn es galt schließlich, die extreme Komplexität von Organisationen zu verstehen.

In Deutschland beginnt man Ende der 1970er- und Anfang der 80er-Jahre, sich mit OE zu beschäftigen. Das damalige sozialliberale Programm der „Humanisierung der Arbeitswelt“ bietet hierfür einen geeigneten Rahmen. Wenn man hierzulande eine fehlende Wissenschaftlichkeit der OE beklagt, dann muss man zugleich konstatieren, dass sich seit diesen frühen Tagen die klassische Betriebswirtschaftslehre mit Händen und Füßen gegen das OE-Konzept wehrt. Denn OE als soziale Innovation „[rüttelte] an den Grundfesten einer Führungskultur“ der akademischen BWL. Die ungeliebte Botschaft lautet: Organisationen sind entwickelbar, sie reagieren auf Wandel – Kommunikation, Reflexion und Feedback sind entscheidend.

Das Individuum: Immer noch zentraler Ansatzpunkt der Betrachtung

Man muss diese Kritik übrigens nicht, wie das die Autoren machen, auf die BWL allein konzentrieren. Auch die Arbeits- und Organisationspsychologie hat zwar einerseits von Lewin und Bion profitiert. Der soziotechnische Systemansatz ist in der Arbeitspsychologie längst tief und zentral verankert. Auch sozialpsychologisches Wissen ist in der Organisationspsychologie adaptiert worden, doch lässt sich nicht verkennen, dass das Individuum immer noch zentraler Ansatzpunkt der Betrachtung ist und weiterhin ein mechanistisches Faktorendenken (z.B. in der Handlungstheorie) vorherrscht. Eine organisationspsychologische Metatheorie fehlt bislang. Vermutlich müsste sich dafür eben auch die herrschende A+O-Psychologie grundsätzlich verändern.

Die zweite Phase einer Theorieentwicklung lokalisieren die Autoren wiederum in den USA. Dort ist OE in den 1980er-Jahren zu einem anerkannten Teil der angewandten Sozialwissenschaften avanciert. Dabei „[wurden] die systemischen Ansätze der Kybernetik zweiter Ordnung völlig unaufgeregt integriert,“ aber auch neue Interventionsformen wie Großgruppenmoderation übernommen. Damit lässt sich eine gravierende Verschiebung markieren: Die konzeptionelle Adaption systemischen Denkens, insbesondere die (neue) Erkenntnis der relativen Geschlossenheit von sozialen Systemen, führt zu einer starken Relativierung der Beraterrolle.

Der deutschsprachige Sonderweg (auch wenn die Autoren dies nicht explizit so markieren) lässt sich am zunehmenden Einfluss der soziologischen Systemtheorie festmachen. Damit wird einerseits das Bedürfnis nach Theorie gestillt, andererseits eine neue Phase der Professionalisierung erkennbar: Institute und Beratungshäuser bearbeiten zunehmend den Markt und verbreiten das Wissen. Auch die BWL öffnet sich langsam dem systemischen Denken. Eine Ausweitung der OE zur Methode organisationalen Lernens ist gleichfalls erkennbar.

Doch lässt sich in der ersten Dekade des neuen Millenniums auch eine neue, selbstkritische Professionalisierungsdebatte ausmachen, von der unklar bleibt, welche Richtung sie einschlagen wird.  Das Spannungsfeld zwischen angloamerikanischem Pragmatismus und kontintaleuropäischem Perfektionismus im Wissenschaftsverständnis bleibt zwar theoretisch offen. Es beschäftigt aber die Praktiker nicht mehr all zu arg. In den ganzen Diskussionen wurde eben auch offenbar, dass es vielleicht nicht nur die eine, sondern mehrere Metatheorien gibt.

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