2. Juli 2024

Management auf den Punkt gebracht!

Spätzünder

INSPIRATION: Was in Jahrzehnten an Querelen und politischen Grabenkämpfen nicht möglich war, erledigt nun vermutlich der Fachkräftemangel und die Corona-Pandemie: Das Medizinsystem verändert sich radikal. An zwei Beispielen lässt sich der Wandel illustrieren. Das Klinikum Gütersloh des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL) hat mit Michael Löhr einen Professor für Psychiatrische Pflege als Pflegedirektor. Eine ungewöhnliche Besetzung. Und offenbar ein Glücksgriff, als die Corona-Pandemie die Klinik vor außergewöhnliche Herausforderungen stellte, indem sie schnelles und flexibles Agieren forderte („Der Wandel wird radikal“). Sozusagen das Gegenteil dessen, was in Klinikorganisationen der Normalfall ist: Die Hierarchien sind in der Regel steil, die Querkommunikation ist ein Problem und das Helfersyndrom ist jenseits der ärztlichen Hierarchie stark ausgeprägt.

Die Krise scherte sich nicht um solche Traditionen. Sie offenbarte, wenn man überleben will, musste man anders arbeiten: Hohe Komplexität lässt sich nur mit Netzwerken bewältigen. Verantwortung wurde also in die Teams delegiert. Das hätte man schon in den 1990er-Jahren von der Einführung von Gruppenarbeit in weiten Teilen der Wirtschaft lernen können. Hatte man aber nicht, brauchte man nicht. Jetzt ging es nicht anders.


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Ein „duales Betriebssystem“ im Klinikum Gütersloh

Im Klinikum Gütersloh hatte man insofern Glück, weil man schon vor ein paar Jahren begonnen hatte, ein duales Betriebssystem zu installieren, das sich an die Ideen von John Kotter orientiert. Es wurde eine „Stabsgruppe für Klinikentwicklung und Forschung“ installiert. Das war der erste Schritt, um die Silogrenzen zu überwinden. Alle alten Stabsstellen aus den drei Säulen Pflege, Medizin und Ökonomie wurden in einer Gruppe zusammengefasst. Mit der Rückendeckung der Betriebsleitung arbeiten sie hinter der Linie und quer über die Säulen hinweg miteinander. Damit ließen sich schnell Probleme lösen, die schon länger vor sich hin köchelten und die Produktivität behinderten.

Im Anschluss wurde das Thema Agilität in die Führungskräfteentwicklung platziert. Eine Herausforderung für Hierarchen, die gleich Entmachtung und Anarchie witterten. Begünstigend wirkte jedoch, dass sich allgemein in den Kliniken derzeit ein Generationenwechsel beobachten lässt – und ein Geschlechterwechsel, die Medizin wird weiblicher. Offenbar ist jetzt auch in Kliniken die Zeit reif, dass man über Leadership-Kompetenzen sprechen kann und muss. Das macht auch vor neuen Karrierewegen nicht halt. Es entstehen neue Arbeitszeitmodelle. New Work ist im Medizinsystem angekommen. „Ich glaube wirklich, dass diese Veränderungen sehr radikal sein werden und dass sie innerhalb von wenigen Jahren spürbar werden,“ so Michael Löhr nach seiner Prognose für die Klinik-Branche gefragt.

Das Beispiel Buurtzorg

Ambulante Pflege ist Akkordarbeit: Zeitdruck, Bürokratie, wenig Anerkennung. Kein Wunder, dass Personal in der Altenpflege schwer zu finden ist. In den Niederlanden hat man mit Buurtzorg, das Prinzip der Nachbarschaftspflege, etabliert. Eine Revolution (Der Dreh in der Pflege). Und die kommt jetzt auch nach Deutschland. Gunnar Sander, Inhaber eines gleichnamigen Pflegedienstes in Münster, hat schon im Jahr 2018 ein Pilotprojekt aufgesetzt: Selbstorganisation ohne Führungskraft. Auch in dieser Branche setzt sich das Prinzip Gruppenarbeit mit mehr als zwanzigjähriger Verzögerung durch.

Sander hat nun auch die gemeinnützige GmbH Buurtzorg Deutschland Nachbarschaftspflege gegründet und forciert die Einführung des Konzepts der ganzheitlichen Betreuung der Patienten. Neben den Angehörigen, Ärzten und Sanitätshäusern gehören auch Freunde, Nachbarn, Vereine oder Ehrenamtliche zum lokalen Netzwerk. Jeder kann entscheiden, wo er oder sie mit anpacken möchte. Bezahlt wird nach Zeit, nicht klassischerweise nach Leistung. Die Krankenkassen erlauben diese Abrechnung probeweise.

Doch selbstorganisiertes Arbeiten ist kein Selbstläufer. Teams müssen sich zusammenraufen, Konflikte klären. Der Buurtzorg-Deutschland-Gründer schätzt, dass man die Teams mindestens ein halbes Jahr ganz intensiv begleiten und schulen muss. Viele Mitarbeiter wurden in klassisch hierarchischen Organisationen sozialisiert. Und individuelle Kompetenz fällt nicht vom Himmel, sie will entwickelt werden – das braucht seine Zeit.

Corona hat auch diese Initiative gebremst. Aber es gibt schon Forschungsprojekte an den Fachschulen Münster und Osnabrück und auch eine Preisverleihung. Und Nachfolger. Die Hoffnung besteht, dass sich diese Initiativen bewähren und ausbreiten. Ein kritischer Punkt wird das Vergütungssystem sein, das von den großen Playern im Markt dominiert wird.

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