KRITIK: Online-Coaching war für viele der etablierten Coaches eine Revolution. Die sich dann doch recht gut bewältigen ließ. Nun stehen neue virtuelle Welten an, sagen einige Propheten. Brauchen wir die?
Kann die Arbeit mit Virtual Reality (VR) im Coaching einen Mehrwert generieren? Die Autoren (Coaching in Virtual Reality) sind davon überzeugt: „Obwohl das Präsenz-Coaching seit dem Ende der Pandemie wieder an Bedeutung gewinnt, bleibt Online-Coaching relevant und hat zu einer nachhaltigen Veränderung der Coaching-Branche geführt.“ Und insbesondere die VR-Variante hat es ihnen angetan. Sie versprechen, dass der Coach seinen Klienten in realitätsnahe Situationen versetzen kann. „Ob es darum geht, Ziele zu setzen, auf der Bühne zu sprechen oder Konfliktsituationen zu bewältigen, VR bietet unendliche Optionen und ermöglicht es, reale Erfahrungen in künstlich erschaffenen Welten zu machen.“
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Warum so kompliziert?
Also mir ist das zu werblich. Und es erschließt sich mir auch nicht zwingend. Warum soll ich die reale Welt verlassen und in eine künstliche eintauchen? Vor allem, wenn ich in der VR lediglich vorab programmierte Räume vorfinde und Avatare als „Dame ohne Unterleib“. Was soll daran so beeindruckend sein? Also mir hat sich das Faszinierende bei diversen eigenen VR-Besuchen nicht erschlossen.
Warum soll ich auf ein künstliches Gegenüber schauen? Ein idealisiertes zumal, dessen natürliche Eigentümlichkeiten mir verborgen bleiben. Keine Flusen auf dem Pulli, kein Mitesser am Nasenflügel, keine dreckigen Schuhe … Und den Handschlag – ist er fest oder kaum spürbar? – kann ich auch nicht entgegennehmen. Ich habe bloß Controller in der Hand, mit denen ich navigiere. Und der künstliche Raum ist steril – one fits all.
Einen speziellen Raum zu programmieren, kostet ein Heidengeld … Solches lohnt sich nur, wenn man für bestimmte Anwendungen Prototypen programmieren kann, die dann viele nutzen können. Beispielsweise Abgründe, an die der Verhaltenstherapeut seine von Höhenangst geplagten Patienten langsam heranführt. Aber Coaching ist nicht Psychotherapie.
Erlebnis, Raum und Embodiment
Die Autoren parieren meine Einwände so: „VR zeichnet sich durch drei Hauptmerkmale aus: Erlebnis, Raum und Embodiment.“ Jetzt werde ich neugierig: Embodiment – damit kenne ich mich aus (Die Rückkehr der Gefühle). Dazu gibt es schon viele fundierte Erkenntnisse und Veröffentlichungen. Man denke nur an das Zürcher Ressourcenmodell (Ganzheitliches Selbstmanagement). Ich denke allerdings, Embodiment ist sogar das stärkste Argument gegen VR. Weil es nämlich ausgeblendet wird. Der Fokus liegt primär auf dem visuellen und akustischen Kanal.
Die Autoren resümieren die drei Merkmale mit „Die sensorischen Eindrücke führen zum starken Eintauchen in die virtuelle Welt und erzeugen ein Gefühl von Präsenz.“ Das ist mir zu oberflächlich und unkritisch. Das müsste differenziert betrachtet werden und auch die „Risiken und Nebenwirkungen“ dürften dabei nicht ausgeblendet werden. Medienpsychologische Erkenntnisse dazu liegen auch längst vor (Avatar-basierte Beratung in virtuellen Räumen), man müsste sich damit aber befassen (wollen).
Ein neues Level?
Stattdessen liest man pauschal, dass sich mit VR die Coaching-Erlebnisse „auf ein neues Level heben“ lassen. Mehr noch, man liest von einer transformativen „Wirkung auf die persönliche Entwicklung der Klienten“. Und dann werden diverse Vorteile für den Klienten aufgelistet:
- Intensive Emotionen erleben durch Immersion
- In einem sicheren Raum üben
- Zugang und Räume für Neues öffnen
- Entfaltung der Vorstellungskraft und Kreativität
- Überwindung von Hemmungen und Ängsten
- Schneller Perspektivwechsel
- Personalisierung
- Spaß am Lernen und Wachsen
Hier wird nicht thematisiert, dass im Zweifelsfall Retraumatisierungen möglich sind, dass man sich in psychotherapeutische Gefilde verirren kann, in denen Coaches nichts zu suchen haben. Auch nicht, dass sich neue Räume und Möglichkeiten auch in Präsenz, beispielsweise mit hypnosystemischen Methoden, erschließen lassen. Es wird auch nicht ausgeführt, was eine VR-Personalisierung kosten dürfte. Aber vermutlich sollte man sich darunter schlicht die übliche Aufstellungsarbeit vorstellen, die man auch für Präsenzszenarien schon kritisieren kann. So bleiben viele Fragen offen. Die Autoren listen dann noch die Vorteile für den Coach auf:
- 3D-Elemente und Perspektiven
- Schneller Wechsel in neue Situationen
- Neue Raumdimensionen
- Neue Methoden
- Minimale Ablenkungen
- Effektivität
Der häufige Gebrauch des Konjunktivs
Bei den Erläuterungen sticht der häufige Gebrauch des Konjunktivs hervor. Man kann sich halt vieles vorstellen und versprechen. Ob es dann so kommen mag … Und so führen die Autoren zum Schluss auch noch diverse „Herausforderungen“ auf:
- Kosten und Zugänglichkeit
- Technische Herausforderungen
- Fehlende persönliche Interaktion
- Ethische Herausforderungen
Ich fürchte, hier öffnen sich dann tiefe Gräben, über die sich nicht so leicht Brücken schlagen lassen. Und hier fängt die Arbeit vermutlich erst richtig an. Wer sich mit der Embodiment-Forschung beschäftigt hat, wird das VR-Kopf-Kino eher vorsichtig betrachten. Also Rein ins Vergnügen vielleicht doch nicht so leichtfertig? Ach eines noch: Über das Phänomen, dass VR-User häufiger über Kopfschmerzen klagen, erfährt man im Text nichts.