KRITIK: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.“ Die Zeile stammt von Hermann Hesse. Und niemand wird bestreiten können, dass sie für eine neue Beziehung gilt. Aber auch für einen neuen Job? Tatsächlich sprechen Arbeitspsychologen von einem „Honeymoon“. Ein Jobwechsel beflügelt, setzt Energie frei, lässt die Zufriedenheit steigen – bis zum „Hangover“ – dem Kater nach der durchzechten Nacht. Also doch lieber im alten Job bleiben, weil man da genau weiß, woran man ist?
Natürlich nicht, der Trend geht zum Wechsel, zumindest träumen viele davon. Laut Wirtschaftswoche denken zwei Drittel der Beschäftigten mindestens einmal im Monat über eine Veränderung nach. Und nur 37% behaupten, kein Interesse an einem neuen Arbeitgeber zu haben. Haben wir schon häufig gelesen. Auch Beispiele von Menschen, die den Schritt gewagt haben. Freiwillig oder weil sie dazu gezwungen wurden. Dem gleichen Muster folgt auch dieser Beitrag (Aller Anfang ist mehr). Wieder sind es vor allem Menschen, die es in Top-Positionen geschafft haben oder als Unternehmensgründer Erfolg hatten. Um dann irgendwann festzustellen, dass ihnen der Sinn in dem, was sie tun, abhanden gekommen ist.
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Kenne ich gut aus eigener Erfahrung und von etlichen anderen, die den Neuanfang gewagt haben. Was hier auffällt: Die hier vorgestellten Persönlichkeiten kommen aus einer extrem komfortablen Lage. Der ehemalige CEO von Puma, der erst einmal auf Reisen ging, ein mehrfacher Gründer, der zu McKinsey wechselte, der Bundestagsabgeordnete, der in die Wirtschaft ging, die Vorständin der Bahn, die in eine neue Leitungsfunktion wechselte – bei ihnen allen erscheint mir das Risiko, das viele von einem Neuanfang abhält, gering, daher taugen sie wohl nicht besonders als Leitbilder. Auch die Laborleiterin, die jetzt als Bergführerin tätig ist, kann sich auf das regelmäßige Einkommen ihres Mannes stützen.
Wenn sich Türen öffnen
So ist die Erkenntnis, dass immer irgendwo eine Tür aufgeht, fragwürdig. Auch wenn ich sie aus eigener Erfahrung bestätigen kann und sich vermutlich für jeden irgendwelche Möglichkeiten bieten, selbst nach einem unfreiwilligen Ende einer Arbeitsbeziehung, so würde ich mir wünschen, dass sich die Autoren mal in weniger großen Höhen als bei Ex-Vorständen oder CEOs umschauen. In einem Fall haben sie es tatsächlich getan: Ein geflüchteter Schneider aus Syrien hat sich in München mit einem Modeatelier selbstständig gemacht. Und setzt jetzt auf eine Online-Änderungsschneiderei. Das Geschäftsmodell klingt noch nicht so, als habe er es geschafft, und von Honeymoon ist auch nicht die Rede. Ist die Geschichte mit dem Neuanfang also eher etwas für Privilegierte?
Klingt fast so. Auch noch nach der Lektüre eines Essays in der gleichen Ausgabe (Du darfst dein Leben ändern). Darin geht es hochphilosophisch zu, z.B. um die Frage, ob unser Leben „vom Diktat seines Endes“ bestimmt ist. Wissen Sie, wie viele Tage uns tatsächlich bleiben, um die Dinge zu tun, die wir tun möchten? Ganze 30.000. Nicht wirklich viele, wenn man noch berücksichtigt das die ersten ca. 6.000 davon ziemlich fremdbestimmt sind.
Knappe Lebenszeit
Da wird einem ein wenig mulmig und man könnte ins Grübeln kommen. Und wer den Neuanfang wagt, ist „schockstarr eingeschüchtert von der Autorität seines ungelebten Lebens.“ Denn jetzt steht plötzlich das Versäumte im Mittelpunkt, und „die knappe Lebenszeit drängt sich ins Bewusstsein“.
Aber ganz gleich, ob uns „die Todesgewissheit zwingt, dem Leben einen Sinn abzutrotzen“ oder ob es keinen Zwang zum Neuanfang gibt, sondern wir Wesen sind, die ihrem „Leben durch unser Sprechen und Handeln jederzeit eine Wende geben können“ – so viel ist gewiss: Ohne eine demokratische Ordnung gibt es diese Freiheit, unser Leben jederzeit ändern zu können, kaum. Und selbst innerhalb der Demokratie bieten sich manchen Menschen deutlich mehr Chancen (siehe oben) als anderen. Was einen rein logisch wieder zur Frage eines Grundeinkommens führt. Vermutlich aber ist das dem einen oder anderen Leser schon wieder zu politisch …