9. April 2025

Management auf den Punkt gebracht!

Erkennen, wie man „tickt“

REZENSION: Günter Schiepek / Bettina Siebert-Blaesing / Marcus B. Hausner (Hrsg.) – Systemische Fallkonzeption. Idiografische Systemmodellierung und personalisierte Prozessgestaltung. Hogrefe 2025.

Die systemische Arbeitsweise, ob in Therapie, Coaching oder Organisationsberatung, ist in weiten Strecken immer noch durch eine starke Pragmatik gekennzeichnet. Aber zirkuläres Fragen oder der Einsatz bewährter, populärer Tools muss noch lange nicht für Qualität stehen. Ebenso wenig wie ein gestelzter Soziologen-Jargon der Luhmann-Adepten. Zum Glück hat die Wissenschaft in den letzten Jahren mit der konzeptionellen und empirischen Erschließung der Pragmatik enorme Fortschritte gemacht. Und damit wird nun die sprichwörtliche Latte entsprechend höher aufgelegt.


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Mit der Veröffentlichung systemischer Fallkonzeptionen wird eine empirische Tiefe ausgelotet, die aufhorchen lässt. Es wird ein wissenschaftlich fundierter systemischer Ansatz aufgezeigt und an zahlreichen Fallbeispielen durchgespielt, dokumentiert und ausgewertet. Das hat das Zeug dazu, die gängige psychotherapeutische und beraterische Praxis in arge Erklärungsnot zu bringen. Wenn es denn die nötige Aufmerksamkeit und Resonanz zu erzeugen vermag. Was man nur wünschen kann. Zudem wird eine Brücke über die Domänen Therapie, Coaching und Organisationsberatung geschlagen.

Der Ansatz

Die einzelnen Fallkonzeptionen werden durch ein Einleitungskapitel und einen Ausblick gerahmt. Günter Schiepek, der Psychotherapieforscher aus Salzburg, gehört der systemtheoretischen Richtung der Synergetik an, die auf den Arbeiten des im letzten Jahr verstorbenen „Vaters der Lasertheorie“, Hermann Haken, aufbaut. Diese Strukturwissenschaft befasst sich mit Musterbildung in Natur und psychosozialen Kontexten. Die grundlegende Idee ist, dass sich Muster mit der Zeit selbstorganisierend etablieren und stabilisieren. Also auch dysfunktionale. Mit diesem Wissen wird aber auch deutlich, dass und wie diese Muster verändert werden können; es also – um in der Sprache der Systemtheorie zu sprechen – zu Ordnungs-Ordnungs-Übergängen kommt. Die Theorie selbst soll an dieser Stelle nicht weiter erläutert werden, das würde den Rahmen einer Rezension sprengen. Wer sich hier vertiefen möchte, wird beim Autor an anderer Stelle fündig. Aber auch bei Jürgen Kriz (Ganzheitliche Psychologie) oder in dem soeben erschienenen Lehrbuch Systemische Psychotherapie, das von Björn Enno Hermans und Astrid Beermann herausgeben wird.

Wie kann man nun das individuelle Muster eines Menschen erschließen? Durch eine ideografische Systemmodellierung, was ein qualitatives Herangehen meint. Zusammen mit dem Patienten (Klienten etc.) werden Variablen herausgearbeitet, die im Muster eine Rolle spielen. Diese Variablen, beispielsweise Selbstwert oder Perfektionismus, interagieren mit anderen Variablen. Sie wirken positiv oder negativ auf andere, dadurch entsteht Kreiskausalität, und schließlich ein dynamisches Netzwerkmodell. In dieser gemeinsamen Arbeit von Klienten und Coach entstehen erste Erkenntnisse über bislang, möglicherweise nicht in der Prägnanz wahrgenommene Dynamiken: Statt einer Diagnose bekommt man ein Erklärungsmodell, das zur Exploration einlädt.

Im nächsten Schritt werden die Systemvariablen in einen individuellen Prozessfragebogen transformiert. Damit arbeitet der Klient anschließend täglich. Die Daten werden über eine App ins Synergetische Navigationssystem (SNS) eingespeist und mit Tagebucheinträgen verknüpft. Somit erhält der Klient ein synchrones Monitoring seines Mustergeschehens. Er erkennt, wie er „tickt“. Aber auch, wie bestimmte Ereignisse oder auch eigene aktive Änderungen im Denken, Fühlen, Verhalten sein Muster verändern. Der Klient wird – zusammen und unterstützt vom Coach – zum Kapitän seiner eigenen Veränderungsreise.

Fallbeispiele

Wie das nun im Einzelnen geschieht, vermittelt dieses Buch anhand von zehn Fallbeispielen im Detail. Die Bandbreite reicht von der Psychotherapie über Paartherapie, Jugendhilfekontext, Coaching bis in die Teamentwicklung. Ein Highlight stellt die Sammlung von über 400 Fällen (über 10 Jahre) aus der von Gunter Schmidt geleiteten sysTelios Klinik dar. Es ist immer wieder beeindruckend, die Grafiken der Zeitreihenanalysen in den Beiträgen zu studieren. Ebenfalls wird deutlich, dass sich die Erkenntnisse aus den Einzelfällen (Ideografik) statistisch aggregieren und damit generalisieren lassen (Nomothetik). Damit dürfte deutlich werden, dass die Zeiten endgültig vorbei sind, in denen man systemisches Arbeiten belächeln und seine Wirksamkeit bezweifeln konnte.

Es schließt sich ein Kapitel zur Software der grafischen Modellierung an. Sowie der Ausblick von Miran Možina, Professor für Psychiatrie an der Sigmund-Freud-Universität in Ljubljana (Slowenien). Er diskutiert das synergetische Prozessmanagement im größeren Rahmen des medizinischen und psychotherapeutischen Kontextes. Dabei kritisiert er den klassischen Reduktionismus und Paternalismus des etablierten Gesundheitssystems. Und eröffnet den Ausblick darauf, dass der Therapie- und Veränderungsprozess selbst als dynamisches, selbstorganisierendes System möglich ist.

Diese Vorstellung von Autonomie, Augenhöhe und Ko-Kreation, die im Bereich Coaching und Organisationsberatung schon lange Common Sense ist, mag im Gesundheitssystem noch visionär klingen. Die methodische Fundierung des systemischen Arbeitens, die in diesem Buch dargelegt ist, sollte allerdings bislang Zweifelnde davon überzeugen können, dass es höchste Zeit wird, die Praxis in Psychotherapie, Psychiatrie und psychosomatischer Medizin zu verändern. Aber auch die Change-Agenten in Coaching und Organisationsberatung werden erkennen, dass es in Zukunft einiger methodischer Anstrengungen bedarf, um Beratung auf einem professionellen Level anzubieten, dass den Vorwurf eines Pragmatismus oder Nice-to-have selbstbewusst parieren kann.

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Thomas Webers

Dipl.-Psych., Dipl.-Theol., Fachpsychologe ABO-Psychologie (DGPs/BDP), Lehrbeauftragter der Hochschule Fresenius (Köln), Business-Coach, Publizist

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