REZENSION: Jürgen Kriz – Subjekt und Lebenswelt: Personzentrierte Systemtheorie für Psychotherapie, Beratung und Coaching. V & R 2017.
So interessant und gewichtig dieses Buch ist, so bemerkenswert ist auch die Vita des Autors. Jürgen Kriz ist Emeritus für Psychotherapie und klinische Psychologie an der Universität Osnabrück, hatte aber auch (weitgehend überlappend) 25 Jahre einen Lehrstuhl in Statistik und Forschungsmethoden. Mit beiden Fachrichtungen hat er sich sehr kritisch auseinandergesetzt, den wissenschaftstheoretischen Mainstream hat er letztlich hinter sich gelassen. In seinem Wissensdrang knüpft er bei der Synergetik des Physikers Hermann Hakens an und hat auf dieser Basis in den letzten Jahrzehnten seine „personzentrierte Systemtheorie“ entwickelt.
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Die Kurzfassung und Anwendung fürs Coaching erschien bereits als „Systemtheorie für Coaches“. Das schmale Büchlein stellt eine kompakte Übersicht dar und gibt der Leserschaft schnell eine gute Basis. Mit diesem Buch legt der Autor allerdings die Langfassung vor. Und die Lektüre lohnt sich wirklich (auch wenn man das kleine Büchlein schon gelesen hat). Dieses Buch ist nicht weniger als die Summe eines Lebenswerks. Drei Jahrzehnte Forschung, Konzeption und Kondensation finden hier ihren Niederschlag.
Der Mensch als Sinnsucher und -finder
Die Leserschaft wird mit einem Theorieansatz bekannt gemacht, der einerseits bei der Berliner Schule der Gestaltpsychologie (1930er-Jahre) ansetzt, andererseits multidisziplinäre systemtheoretische Erkenntnisse aufbereitet, die in der akademischen Psychologie in weiten Strecken (leider!) noch nicht angekommen sind. Dieser Ansatz ist zugleich personorientiert, da er die humanistische Perspektive – der Mensch als Sinnsucher und -finder – in den Mittelpunkt stellt.
Kriz geht grundsätzlich vom nichtlinearen Verlauf von Entwicklungen aus. Das klassische Wissenschaftsparadigma, das sogenannte Maschinenmodell (wie das Heinz von Foerster nannte), aber auch das heute populäre Regelkreismodell als Weiterentwicklung sind letztlich nur Sonderfälle im neuen, systemtheoretischen Ansatz. Wenn heute also viel von künstlicher Intelligenz die Rede ist – und etliche fürchten diese inzwischen – mag man sich mit der Lektüre dieses Buches gleich entspannt zurücklehnen. Mit menschlicher Intelligenz hat das eben wenig zu tun. Diese ist weit autonomer und unberechenbarer, als die Digitalisierungsapostel denken.
4 essenzielle Prinzipien
Es würde den Umfang dieser Rezension sprengen, den Ansatz der „personzentrierten Systemtheorie“ in Gänze darzulegen. Viel zu zahlreich sind die Topoi, Quellen und Querbezüge, die sich in der Lektüre erst allmählich und rekursiv erschließen. Wie in einem Kaleidoskop bricht sich der Blick allerdings an vier essenziellen Prinzipien der Systemtheorie: (1) Prozesse statt Dinge, (2) Rückkopplung, (3) Selbstorganisation/Emergenz sowie (4) System vs. Umwelt. Herausragend und sich auch gegen allzu naive „systemische“ Adaptionen in der Praxis absetzend, sind Ausführungen zur Sprachphilosophie (Biosemiotik). Kriz führt den Begriff der Synlogisation für das gemeinsame Ringen um Bedeutung, um Sinn ein, welches in Kommunikation (bspw. Coaching) stattfindet: „was dabei entsteht, ist ein gemeinsames ‚Bedeutungsfeld'“ (S. 180).
So lässt sich erahnen, welchen konzeptionellen Quantensprung im Verständnis von Kommunikation Kriz die Leserschaft nachvollziehen lässt: In der Alltagspraxis benutzen viele immer noch naiv das nachrichtentechnische (Sender-Empfänger-)Modell. Mit dem Vier-Ohren-Modell von Schulz von Thun hat sich in der Weiterbildungsszene inzwischen ein differenzierteres Modell etabliert. Dieses wird von Kriz mit dem Begriff Synlogisation noch weit anspruchsvoller überboten: „beide Personen reden miteinander, ohne dass zunächst sehr klar wäre, was der jeweils andere für Bedeutungen mit manchen Begriffen, Aussagen, Sprachbildern etc. verbindet. Aber in der zirkulären Dynamik synlogisieren eben beide eine zunehmend gemeinsame Bedeutung“ (S. 180).
Manche mögen sich hier an den altbekannten Begriff Dialog erinnert fühlen. Das stimmt in der Richtung, doch Kriz modelliert dies systemtheoretisch aus, was dann auch sehr praktisch wird. Kriz unterscheidet in seinem ganzheitlichen Ansatz vier Prozessebenen – körperlich, psychisch, interpersonell und kulturell. Es sind vier Perspektiven auf ein und dieselbe Sache. Solche Perspektive gab es schon zuvor, sie waren aber oft einseitig. So hat Rogers individuelle und interpersonelle Aspekte in den Vordergrund gestellt, aber familiäre, kulturelle oder gesellschaftliche eher ausgeblendet. Die Familientherapie wiederum hat interpersonelle und familiäre Prozesse fokussiert, doch psychische und organismische Aspekte vernachlässigt. Kriz führt diese Perspektiven zusammen und bietet eine Gesamtschau, die am Menschen als Subjekt, als Sinnsucher und Gestalter ansetzt.
Fazit: Das Buch ist ein Meilenstein, trotzdem verständlich geschrieben und liebevoll mit zahlreichen Praxisbeispielen bestückt. Ein Lesemuss für alle Coaches, die sich systemisch nennen, sowie für solche, die es werden wollen.