KRITIK: Meine Zeiten in einem klassischen Bürogebäude liegen lange zurück. Wobei es sich dabei eher um umgebaute Wohnhäuser handelte. Die Zimmer waren unterschiedlich groß, derjenige, der zuletzt kam, bekam das kleinste und die Größe der Büros hatte mehr mit dem Status oder der Betriebszugehörigkeit zu tun. Wobei so manche Führungskraft in ein Dilemma geriet, wenn ein Büro zwar nicht das größte war, dafür aber die schönste Aussicht bot.
Dergleichen ist offenbar Vergangenheit. Heute sieht die Umgebung von Angestellten so aus: Es gibt Arbeitsräume, die gemeinsam genutzt werden und die von einem eigenen Markendesignteam funktional angepasst und dekoriert werden. Dort gibt es Lebensräume, die eine Wohnzimmeratmosphäre verbreiten, mit Küchen, Lounges, Terrassen, Kreativraum und „Community-Bereichen“. Hier können sich die Mitarbeitenden mal zurücklehnen, Gedanken ordnen und Kraft tanken. Und es gibt einen „Traumraum“, mit handgefertigten Betten, die höchsten Komfort bieten.
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Eine Utopie?
Die Idee: Jeder kann sich in den Bereichen aufhalten, die seinen aktuellen Bedürfnissen gerecht werden. Eine Utopie? Ganz sicher nicht, das ist die Beschreibung der Arbeitsumgebung in dem Hauptsitz des Finanzdienstleisters Qonto in Paris. Er erstreckt sich über vier Etagen, auf 5.700 Quadratmetern ist Platz für 620 Arbeitsplätze und 60 Besprechungsräume (Suche nach Sinn und Wirkung).
Natürlich denkt man dort auch ökologisch: Es gibt Bewegungsmelder, so dass das Licht nur eingeschaltet wird, wenn sich jemand in einem Bereich aufhält. Die Transportwege werden möglichst kurz gehalten, die Möbel wurden von lokalen Partner nachhaltig hergestellt, ohne Lack, sondern mit Naturöl behandelt. Die Stühle sind aus recycleten PET-Flaschen gefertigt, die von chinesischen Mülldeponien stammen (im Ernst jetzt?). Die Bio-Snacks kommen von einem Unternehmen, das zu 77% Menschen mit Behinderung beschäftigt.
Meine Erinnerung an unsere alte Bürozeit sieht so aus: Die meisten Kolleg*innen hatten ein Einzelbüro, die meiste Zeit standen die Türen offen (außer die der Führungskraft). Es gab eine Teeküche, in der hin und wieder jemand für alle Spaghetti kochte. Und in der häufiger Menschen zusammen standen und den neusten Klatsch austauschten. Wenn man mit seiner Kaffeetasse aus der Küche und an den offenen Bürotüren vorbei kam, stattete man der Kollegin einen kurzen Besuch ab oder wurde hereingerufen. Manchmal standen zwei oder drei Kollegen vor dem Schreibtisch und diskutierten ein aktuelles Thema. Und in dem größten Büro fanden mitunter spontane Arbeitstreffen statt. Wer in Ruhe gelassen werden wollte, schloss die Tür. Die Schreibtische waren grau und hässlich, die Aktenschränke ebenso. Um einen bequemen Schreibtischstuhl musste man ringen, und der Kopierer stand auf dem Flur oder später in einer engen Kammer.
Zu viele Optionen
Wenn ich jetzt lese, dass ein Ergebnis der beeindruckenden Arbeitsumgebung bei Qonto ist, dass die Zufriedenheit kurz nach dem Umzug um mehr als 12% stieg, dann frage ich mich: Ob wir mit Wohnzimmeratmosphäre und bequemen Betten auch zufriedener gewesen wären? Natürlich macht die Gestaltung von Räumen einen Unterschied, und ich habe auch relativ moderne Headquarter erlebt, die sich durch prächtige Glasfassaden nach außen und lange Flure mit geschlossenen Bürotüren nach innen auszeichneten. Dort zu arbeiten habe ich mir immer furchtbar vorgestellt.
Ich wage aber mal eine Prognose: Eine Bürolandschaft, in der ich ständig wählen kann, ob ich mich auf einem Sofa niederlasse, mich im Kreativraum tummle, mit dem Kaffee auf die Terrasse spaziere oder mich auf ein Nickerchen ins Bett lege, führt auf Dauer keineswegs zu mehr Zufriedenheit. Sie mag Bewerber anlocken, dem Image des Arbeitgebers dienen, aber sie stellt die Mitarbeitenden vor ein Problem: Das der zu vielen Optionen. Die Sonne scheint? Da bietet sich die Terrasse an. Aber eigentlich müsste ich an meiner Präsentation arbeiten, da brauche ich Ruhe. Dabei die Füße hoch legen, wäre auch nicht schlecht. Aber in der Sofaecke sitzen die Kollegen nett zusammen, vielleicht schaue ich erst mal dort vorbei. Wann, wo und wie arbeiten zu können und das täglich, stündlich neu zu entscheiden, macht, so fürchte ich, eher unzufrieden.
Ich hätte übrigens gerne gewusst, wie viele Mitarbeitende sich tatsächlich in die Luxusbetten legen. Und vor allem: wann?