INSPIRATION: In Corona-Zeiten wurde irgendwann von den Balkonen Applaus gespendet: Für Krankenpflegekräfte und Ärzte, die trotz schwieriger Lage ihren Job gemacht haben. Das war schön und ergreifend zu sehen. Doch geholfen hat es nur bedingt.
Denn die Lage ist schon lange als desolat bekannt. Zahlreiche Studien haben den Finger in die Wunde gelegt. Nun hat Great Place to Work®, die Company, die schon seit dem Jahr 2006 die Benchmarkstudie „Beste Arbeitgeber Gesundheit und Soziales“ in Deutschland durchführt, in die Schatzkiste gegriffen und Befragungsdaten von ca. 28.000 Pflegekräften aus rund 290 Einrichtungen in Deutschland der Jahre 2018 bis 2022, also einen gewaltigen Datensatz, der aber immer noch nicht repräsentativ ist, ausgewertet.
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Die Autor:innen (Kritische Arbeitsbedingungen, mäßige Führung oder moralische Verletzungen) konnten die üblichen Kritikpunkte der Mitarbeitenden – geringe Bezahlung, ungünstige Arbeitszeiten, hohe Arbeitsbelastung und unzureichender Wertschätzung durch Führungskräfte – nur bestätigen. Aber sie förderten auch ein neues Thema auf den Tisch. Und das ist nicht nur spannend, sondern mehr als bemerkenswert. Es zeigt, dass es noch tieferliegende Probleme gibt.
Aufgekündigter psychologischer Vertrag
Das Thema lautet: moralische Verletzungen. Und das geht über die Enttäuschung eines aufgekündigten psychologischen Vertrags noch hinaus. Womit Versprechungen jenseits des schriftlichen Arbeitsvertrags wie Karriereoptionen, Loyalität und kulturelle Spielregeln gemeint sind. Das Thema moralische Verletzungen (moral injury) geht an den existentiellen Kern der Berufstätigkeit. Es bezeichnet „psychische[n] Folgen, die Menschen erleiden, wenn sie etwas getan, beobachtet oder nicht verhindert haben, was ihre tiefsten Moralvorstellungen verletzte und erschütterte, und wenn sie sich diese Erfahrung nicht verzeihen können.“
Ursprünglich stammt das Konzept aus der Militär-Psychologie. Ärzte und Pflegekräfte steigen oft mit überhöhten (idealisierten) Vorstellungen in den Job ein (Halbgott in weiß, Florence Nightingale) und werden dann mit den Anforderungen des Arbeitsalltags konfrontiert. Im Krankhaus kommt es dann oft zum Konflikt. Nicht nur, weil man oft Menschleben nicht retten oder deren Leiden nicht lindern kann. Sondern weil die Organisation sich den eigenen ethischen Ansprüchen nicht „fügt“.
Nennen wir es Berufsethos
Konkret berichten die Mitarbeitenden, dass Standards, die aus ihrer Sicht eine gute Pflege ausmachen, nicht umsetzbar erscheinen. Als Gründe wird der Druck, „wirtschaftlich“ zu arbeiten, genannt. Es gibt detaillierte Vorgaben, wie, mit welchem Zeitbedarf und welchem Personalschlüssel einzelne Leistungen zu erbringen sind. Diese Standards sind in den Augen der Mitarbeitenden unzureichend und nicht realisierbar. Oder widersprechen dem Humanitätsprinzip. So erleben sie zum Beispiel, dass „solche Operationen bevorzugt durchgeführt werden, die mit hohen Pauschalen honoriert werden.“
Was macht das mit den Pflegekräften? Nun im Vergleich mit Mitarbeitenden im Verwaltungsbereich reduziert das ihr Engagement. Sodann erleben sie eine Gratifikationskrise: Sie vergleichen ihr Stresslevel mit anderen Berufsgruppen und kommen zum Schluss, unterbezahlt zu sein.
Zudem vermissen sie Wertschätzung. Und der kritische Blick landet bei ihren Führungskräften. Während 70% der Mitarbeitenden in der Verwaltung die Geschäftspraktiken ihrer Führungskräfte als ehrlich und ethisch vertretbar einschätzen, äußern sich gut die Hälfte der Pflegekräfte (54%) – wie auch Ärztinnen und Ärzte (53%) – hier deutlich reservierter. Nur 41 Prozent der Pflegekräfte halten ihre Führungskräfte für Vorbilder. „Ärztinnen und Ärzte sind hier noch kritischer (35%).“ Ist das nicht bedenklich? Das klingt in keiner Weise nach transformationaler Führung. Und die Autorinnen mutmaßen, dass in Krankenhäusern eben immer noch ein autoritärer Führungsstil vorherrsche.
Es geht ans Eingemachte
Solches beeinflusst die Unzufriedenheit stärker als die Klagen über die „hohe Arbeitsplatzbelastung, eine mäßige Bezahlung und nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten einer flexiblen Arbeitszeitgestaltung“. Und interessanterweise ist auch das Thema Bezahlung – bei dem es in letzter Zeit schon Verbesserungen gegeben hat – weniger wichtig als „die Möglichkeit, die Arbeitszeiten flexibel gestalten zu können.“ Mit besserer Bezahlung allein wird man die grundsätzlichen Probleme – Fachkräftemangel und Pflegenotstand – also nicht lösen können. Manche Krankenhausmanager haben das Problem schon erkannt (Spätzünder). Doch muss man sich angesichts der Daten der Autoren (Kritische Arbeitsbedingungen, mäßige Führung oder moralische Verletzungen) fragen, wie hoch der Anteil wohl sein mag. Hinzu kommen weitere Aspekte, die in der Great-Place-to-Work-Studie gar nicht tiefer reflektiert wurden: die Rolle der Architektur (Hausgemachte Probleme). Auch hier gibt es zum Glück schon Gegenbeispiele (Wir bauen das Haus rund). Doch die Lage ist komplex und mit Sicherheit nicht kurzfristig zu verändern. Und es geht um unterschiedliche Interessen und damit um Macht. Doch was nützt die, wenn der Braindrain immer mehr anschwillt?