17. Mai 2024

Management auf den Punkt gebracht!

Online-Coaching – ungeliebt und unterschätzt

REZENSION: Klaus Bredl / Barbara Bräutigam / Daniel Herz – Avatar-basierte Beratung in virtuellen Räumen. Die Bedeutung Virtueller Realität bei helfenden Beziehungen für Berater, Coaches und Therapeuten. Springer 2017.

Virtuelles Coaching erfreut sich im deutschsprachigen Raum nicht gerade besonderer Sympathien. Die Daten, die Jörg Middendorf auf dem Erdinger Coaching-Kongress 2016 präsentierte, sprechen diesbezüglich Bände: 85 Prozent der 454 Teilnehmer seiner etablierten „Coaching Umfrage Deutschland“ erklären, dass sie klassisches Präsenz-Coaching nutzen. Die Kanäle Telefon (7%) und Videotelefonie (5%) folgen weit abgeschlagen, technisch elaboriertere Lösungen schaffen es nicht über die Ein-Prozent-Hürde.


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Die Befragten halten Präsenz-Coaching ebenso für die mit Abstand geeignete Variante, die technikunterstützten Formen werden deutlich skeptischer bewertet. Auch die nach Themen differenzierte Betrachtung unterstützt diesen Befund: Bis auf das emotional „kalte“ Thema Karriere- und Berufswegfragen erachten die Umfrageteilnehmer das Face-to-Face-Coaching mehrheitlich als besser geeignet als technisch unterstütze Varianten.

Ein Nischen- und Luxusthema?

Man könnte die Beschäftigung mit virtuellen Beratungssettings folglich als Nischen- und Luxusthema abhaken. Doch das greift vermutlich zu kurz. Denn man kann die Befunde auch folgendermaßen deuten: Die breite Masse der Befragten gehört älteren Jahrgängen an und diese sind weniger technikaffin und fühlen sich von technischen Neuerungen eher überfordert. Sie lehnen virtuelles Coaching ab mit der Selbstwert-stützenden Begründung, virtuelles sei kein „richtiges“ Coaching. Diese These ließe sich durch weitere Daten der genannten Umfrage stützen. Sehen die Befragten als Vorteile digitaler Settings zwar hauptsächlich räumliche und zeitliche Flexibilität, schätzen sie andere Aspekte wie Anonymität, Protokollmöglichkeiten, größere Offenheit des Klienten kaum als bedeutsam ein. So werden als Nachteile auch vor allem fehlende Interaktionsmöglichkeiten und fehlende Kommunikationskanäle genannt.

Damit wäre der Status quo als ausgeprägtes Vorurteil dekuvriert: Die Masse kennt offenbar weder die virtuellen Möglichkeiten im Einzelnen, noch den Stand der medienpsychologischen Forschung. Denn gerade die Kritik an fehlenden Kommunikationskanälen, die Mitte der 1980er-Jahre unter der Überschrift „Media Richness Theory“ formuliert wurde, ließ sich in der Folge wissenschaftlich nicht aufrechterhalten. Dies liegt nicht nur an neuen erweiterten technischen Möglichkeiten, sondern auch an mittlerweile differenzierteren medienpsychologischen Theoriebildungen. Demnach könnte man inzwischen den Spieß auch begründet umdrehen und behaupten, in virtuellen Settings habe man nicht nur gleichwertige, möglicherweise sogar potentere Möglichkeiten als in der Offline-Beratungswelt zur Verfügung.

Unbekannte Medienpsychologie?

Zeit also, sich schlau zu machen! Wer nicht gleich das dicke medienpsychologische Lehrbuch (z.B. Batinic & Appel) konsultieren möchte, kann sich mit dem kleinen Büchlein von Klaus Bredl, Barbara Bräutigam und Daniel Herz aus der Springer-Essentials-Reihe (Avatar-basierte Beratung in virtuellen Räumen) schon ganz gut an den Start bringen. Die Autoren referieren vier Merkmale Avatar-basierter Kommunikation:

Symbolisierungsfähigkeit meint die (schon bei Kindern beobachtbare) Fähigkeit, Symbol- und Rollenspiele zu inszenieren und damit Spielräume zu generieren. Damit vermag man leicht an im systemischen Coaching bekannte Konzepte wie Robert Musils „Möglichkeitssinn“ oder Heinz von Foersters „Vermehre die Möglichkeiten“ anschließen. Indem der Klient einen Avatar schafft, der über die von ihm gewünschten Eigenschaften verfügt, ermöglicht er potenziell die Stärkung bestimmter Persönlichkeitsanteile.

Der Grad der Identifizierung lässt sich in vier Stufen darstellen: Vom stereotypen Player (Spielpüppchen) über den Avatar, der sich individuell gestalten lässt, gelangt man zur innerpsychischen Aufwertung des Avatars als Charakter, mit dem der Protagonist in der Ich-Form kommuniziert, und schließlich zur Persona, bei der die virtuelle Repräsentation vom Protagonisten als Teil seiner Identität erlebt wird. Potenziell ist der Avatar folglich in der Lage, Defizite im Beziehungsbereich des realen Lebens zu kompensieren, eine Vorstellung, die durchaus an Konzepte der Offline-Welt (z.B. Inneres Team) anschließen kann.

Als Immersion wird das Eintauchen in virtuelle Welten bezeichnet. Man erlebt sich online umweltbedingt, personengebunden und sozial präsent – auch solches ist kompatibel zu hypnosystemischen Offline-Konzepten.

Als letztes Merkmal wird die inzwischen empirisch belegte Tendenz zu höherer Selbstoffenbarungsbereitschaft in Online-Settings aufgeführt. Damit wird die Hemmschwelle zur Beratung gesenkt, was sich als ein klarer Vorteil gegenüber klassischen Beratungsangeboten werten lässt. Zudem steht schon länger die These im Raum, dass die Online-Kommunikation sozialer und intimer abläuft als offline, weil es zu wechselseitigen selektiven Selbstdarstellungen, positiven Projektionen und damit zu Idealisierungsprozessen kommen kann.

Fazit

Insgesamt hält die Leserschaft mit diesem Büchlein einen schnellen und leicht lesbaren Einstieg in das Thema Avatar-basierter Beratung in Händen, der an einigen Stellen aber leider viel zu knapp ausgefallen ist. So fehlt auch eine konkrete Darstellung eines Avatar-basierten Coaching-Falls. Eine solche Darstellung von CAI-World-Gründerin Elke Berninger-Schäfer findet man allerdings im 2014er-Coaching-Supplement von managerSeminare.

Virtuelles Coaching wird bislang in seinen Möglichkeiten noch völlig unterschätzt. Es wird in den nächsten Jahren aber zunehmend wichtiger werden und an Verbreitung deutlich zunehmen.

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