INSPIRATION: Seit Jahren schon liest man Berichte über agiles Arbeiten. Oft wird es in den höchsten Tönen gelobt. Andere heben warnend den Zeigefinger und verweisen auf Honey-Moon-Romantik. Was ist nun dran am Hype?
Rainer Bäcker (Agile (Ver-)Führung) und Kollegen haben mit Tiefeninterviews interessante Erkenntnisse zu einer „Psychologie des Agilen“ herausgearbeitet. Zunächst fiel den Autoren auf, dass das Thema stark mit Emotionen aufgeladen ist „und es kaum Versuche gibt, sich auf einer rein rationalen und distanzierten Ebene damit auseinanderzusetzen“. Die agilen Geschichten und Bildern, die ihnen erzählt wurden, waren allerdings durchweg paradox gestrickt. Es fanden sich etliche Widersprüche, vage Formulierungen und starke Polarisierungen. Recht auffällig, so dass Assoziationen zu einem Glaubensstreit aufkamen. Die Autoren fassen ihre Erkenntnisse in fünf Paradoxien zusammen.
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5 Paradoxien
Überzeugende Unbestimmtheit: Es fällt auf, dass eine „Kunstsprache“ benutzt wird. In der agilen Welt gelten offensichtlich alte, allgemeine Begrifflichkeiten wenig, sie werden gemieden – oder sogar dezidiert abgewertet. An deren Stelle treten dann vage Begriffe wie beispielsweise „Mindset“, die undefiniert bleiben und in die jede:r packen kann, was er/sie will. „Es ist weniger eine intellektuelle Auseinandersetzung mit dem agilen Konzept sichtbar als ein emotionales Angesprochen-Sein und eine gefühlte Identifikation.“
Selbstverwirklichender Selbstverzicht: Freiheit und Selbstverwirklichung sind offensichtlich dominante Motive. Bilder wie das des „Campingurlaubs“ stehen dafür. Doch werden sie auf der anderen Seite mit der „Forderung nach Ein- und Unterordnung ins Kollektiv“ kontrastiert. Die Freiheit hat offensichtlich ihren – nicht geringen – Preis.
Tolerante Diskriminierung: Sympathische Bilder von hoher Gruppenkohäsion – Partisanengruppe, Wolfsrudel, Ameisenvolk, Jazzmusiker, Schwarm etc. – schlagen um in solche starker Exklusivität und sogar Diskriminierung. Bei genauerer Betrachtung fällt nicht nur eine stark ausgeprägte Altersdiskriminierung auf, sondern auch eine soziale (Ingroup-Attitüde), die man von (Psycho-)Sekten kennt. Die „Auserwählten“, die gerne intern von Augenhöhe und Demokratie statt Hierarchie sprechen, können dann recht autoritär werden – in der Abwertung „Andersgläubiger“, Missionierung oder „Umerziehung“.
Verheißungsvolle Bedrohung: Die Freizeit- und Partybilder agiler Arbeit als großem Spaß lassen die Mühsal existenzsichernder Notwendigkeit vergessen. Die sorglose, unbeschwerte Jugendlichkeit scheint Ewigkeitscharakter zu besitzen. Doch unterm Boden oder hinter den Ecken und Hecken lauert Desillusionierung – und die Angst. Die man permanent verdrängen muss. „Agilität wird als ‚Schlange, die flink ist, aber auch beißt und giftig ist‘ beschrieben.“ Streit und Gefahren lauern intern (Hackordnung) und außerhalb (die Unwägbarkeiten des Markts).
Der vergessene Kunde: Die auffälligste Erkenntnis der Forscher ist dramatisch. Angetreten unterm Banner der Kundenorientierung ist die Organisation scheinbar dermaßen mit sich selbst beschäftigt, dass die Kundschaft aus dem Blick gerät. „In den agilen Bildern und Geschichten der Studie taucht der Kunde nicht auf, was in klarem Widerspruch zur agilen Theorie steht.“
Angstabwehr
Die Autoren bewerten die Inszenierung der agilen Welt als eine „Form der Angstabwehr“. Im Sinne einer „Identifikation mit dem Aggressor“, der VUCA-Welt. Was tun? Und was bedeutet der Befund für das Thema Führung? Agilität braucht
- „mehr Führung und bessere Führung“, so die klare Meinung der Forscher – nicht weniger oder gar keine. Weil das Ganze einen stabilen, verlässlichen Rahmen braucht.
- Nicht nur Sprint- sondern auch Marathonqualitäten – und deren gute Balance.
- Einen kühlen Kopf und eine gute Erdung, um den übertriebenen Verheißungen zu widerstehen.
- Tatsächlichen, ernsthaften und qualitativ hochwertigen Kundenkontakt – und weniger Marketingphrasen.
Wenn auch die Studie nur auf einer überschaubaren Stichprobe beruht, erzeugt die Methode der Tiefeninterviews doch eine hohe Validität. Und die Ergebnisse reihen sich ein in andere, ähnlich lautende Befunde: Agilität als Mode, als Zeitgeistphänomen. Die große Gefahr besteht offensichtlich darin, Agilität als Allzweckwaffe misszuverstehen. Und sich gegen Kritik und Differenzierung zu verschließen. Aber lernen kann man von der Debatte allemal.