INSPIRATION: „Ich weiß nicht, was ich gesagt habe, bevor ich die Antwort meines Gegenübers gehört habe“ (Paul Watzlawick). Das ist richtig, aber weitem nicht die ganze Botschaft. – Erhellendes über das Verhältnis von Sprache und Körper.
Ein bemerkenswerter, lesenswerter Beitrag vom Autor Klaus Obermeyer („Berühren ohne zu berühren“). Nein, ich muss noch einen drauflegen: Obwohl ich mich schon lange und auch letztens wieder intensiv mit dem Thema Sprachphilosophie beschäftigt habe, bekomme ich hier noch einmal einen enormen Erkenntnisschub. Ach was, ich lege noch einen drauf: eine Erleuchtung!
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Doch damit will ich niemanden verschrecken – von wegen Sprachphilosophie –es geht schlicht um grundlegende Konzepte in Kommunikation, Coaching und Psychotherapie. Solche, die nicht Allgemeingut sind, aber es werden sollten. Weil sich damit so viel klärt und es dann einfach wird – womit ich nicht simpel meine.
Warum das wichtig ist? Nun, weil es im Nachhinein doch schier unglaublich erscheint, wie man sich mit schlechten Konzepten (Vorstellungen, Einstellungen) das Leben nicht nur schwer, sondern auch unpraktisch machen kann. Aber genau das passierte im vierten vorchristlichen Jahrhundert. Der Philosoph Platon entwickelte die Idee, dass Menschen sprachliche Etiketten auf Dinge pappen. Sprache ist für den alten Griechen bloß ein Werkzeug. Auch wenn Philosophenkollege Aristoteles das kurz drauf etwas relativiert und auf die logische Struktur der Sprache verweist, ebnet er bloß den Weg in eine andere, falsche Richtung. Als ob die Sprache nicht von dieser Welt sei – sondern objektiv vorliege. Noch so ein Irrtum.
Sprache: Nicht von dieser Welt?
Meine verehrten Leserinnen und Leser mögen sich vermutlich inzwischen am Hinterkopf kratzen. Aber bitte bedenken Sie, diese Vorstellungen haben bis in die jüngste Neuzeit überlebt. Und wenn man sich einmal umhört, begegnen sie einem noch laufend im Alltag. Wir operieren, kommunizieren so in der alltäglichen Kommunikation, aber auch in Coaching und Psychotherapie. Und weil sie nicht nur schräge, sondern auch irreführende Ideen sind, machen sie uns das Leben schwer. Was wir auch manchmal bemerken. Wir regen uns über neue Buzzwords auf. Oder verzweifeln daran, dass uns die Worte fehlen. Vielleicht wäre es besser, wenn wir Abschied nehmen von solchen Konzepten – und den Problemen, die sie produzieren.
Erst im 18. Jahrhundert haben einige Denker begonnen, sich die Sache mit der Sprache mal etwas genauer anzuschauen. Herder und Humboldt arbeiteten heraus, dass wir uns die Welt erst über die Sprache erarbeiten, dass wir in ständigen Dialogen leben. Und dass unsere Sprache immer einen geschichtlichen und kulturellen Bezug hat. Es gibt sie nicht „an und für sich“. Sie ist weder vom Himmel gefallen noch objektiv. Was es aber so schwierig macht, über Sprache zu sprechen, ist, dass wir sie dafür benutzen müssen. Es gibt für uns keinen Ort außerhalb der Sprache (Nietzsche).
Sprache und Leib
Ok, ich habe Erbarmen mit meiner Leserschaft! Sprachphilosophie lässt sich in Lehrbüchern studieren. Aber warum die lange Vorrede? Nun, Autor Klaus Obermeyer radikalisiert die Perspektive noch einmal. Er konstatiert das Naheliegende, aber über die Jahrhunderte ebenfalls Missachtete: „Die Bedeutung der Worte ist ohne Rückgriff auf leibliche Dispositionen nicht zu entschlüsseln.“
Und dann folgt ein Exkurs in die Entwicklungspsychologie. Jerome Bruner offenbart uns grundlegende Einsichten darüber, wie kleine Kinder Sprache erwerben. Und das verläuft über die Phasen Bewegung (Saugen, greifen, hungern …), szenisch-situative Bilder, die mit allen Sinneskanälen erlebt werden, hin zur Repräsentation mit abstrakteren Symbolen, die erlauben, aus dem Hier-und-Jetzt herauszutreten – in die Vergangenheit sowie Zukunft. „Sprachliche Kommunikation setzt die Kommunikation der Körperbewegungen und Bilder voraus. Und jedwede sprachliche Äußerung ist mit impliziten Gedächtnisspuren verknüpft.“
Damit ereignet sich – kaum, dass wir es wahrnehmen – eine Revolution. Obermeyer zitiert den Philosophen Merleau-Ponty: „In Wahrheit ist das Wort Gebärde, und es trägt seinen Sinn in sich wie die Geste den ihren.“ Autor Obermeyer lässt all diese Gedanken in der sogenannten Brückenqualität der Sprache kulminieren: „Um Worte zu begreifen, aktiviert unser Gehirn ganze Vorratslager abgespeicherten Wissens – zum Beispiel Bewegungsabläufe, Gefühle, Gerüche, visuelle Erinnerungen – und simuliert diese Dinge gedanklich …“. Wer sich an dieser Stelle ans Zürcher Ressourcenmodell (Ganzheitliches Selbstmanagement) erinnert fühlt, liegt goldrichtig. Dessen Kernstück ist schließlich das Embodiment (Die Rückkehr der Gefühle).
Es prallen Welten aufeinander
Das bringt es auf den Punkt: Wir pappen nicht Etikette auf Dinge – und alle verstehen dann dasselbe. Alle verstehen etwas Individuelles. Weil wir, unser Leib inklusive Gehirn, eine einmalige Lerngeschichte hinter uns haben. Wir werden zwar in eine Sprachgemeinschaft und eine Kultur hinein geboren und sozialisiert, aber das geschieht eben sehr individuell und einmalig. Nicht so, dass wir uns gar nicht verstehen könnten, wie der radikale Konstruktivismus das annimmt (jede:r eine Insel). Sondern so, dass wir Sprache und Kultur zwar als Gemeinsamkeit prinzipiell teilen, uns aber individuell angeeignet haben. Das erinnert mich doch sehr an das ausgezeichnete Buch von Jan Bleckwedel, bei dem es um die menschliche Beziehungsgestaltung geht (Spotlight auf den blinden Fleck).
Es ist auch wenig nützlich, auf einer formalen Logik der Sprache zu beharren – und dann um richtig oder falsch zu streiten. Weil jede:r seinem/ihren synästhetischen „Orgelkonzert“ lauscht, wenn wir Sprache hören. „Worte lösen vielsinnige Resonanzen in uns aus.“ Wir erleben intuitiv Choreografien von Handlungs- und Bewegungssuggestionen. „Worte muten oft einfach und unschuldig an und haben es doch ‚faustdick hinter den Ohren‘.“
Wenn wir also miteinander sprechen, bedeutet das: Wir ringen gemeinsam um Bedeutung. Weil es keinen natürlichen, objektiven Common Ground gibt, also eine identische, gemeinsame Verständnisgrundlage. Das ist, was Jürgen Kriz Synlogisation nennt (Ganzheitliche Psychologie). Oder noch einmal Autor Obermeyer: „Bei Licht betrachtet hat jedes einzelne Wort metaphorisches Potenzial, da es auch auf von der unmittelbaren Bedeutung entferntere Erlebnisqualitäten verweist.“
In welcher Welt leben wir?
Das Nachdenken über Sprache hat also ganz konkrete Konsequenzen im Alltag. Wir leben nicht in einer objektivierbaren Welt, wie uns das viele weismachen wollen – unter ihnen Juristen (vor dem Gesetz sind alle gleich) oder Betriebswirte (Maschinenmodell) und so weiter. Aber wir leben auch nicht in einer Welt, die sich jeder bloß konstruiert – wie das Vertreter des radikalen Konstruktivismus oder Anhänger einer Populär-Systemik behaupten. Wir leben in einer Welt, in der wir Sprache und Kultur einerseits teilen, andererseits haben wir uns diese aber recht individuell zu eigen gemacht.
Sensibel für diesen Hintergrund gilt es, nicht nur im Alltag, sondern auch im professionellen Kontext von Beratung, Coaching, Therapie, aufmerksam dafür zu bleiben, was sich in der Kommunikation ereignet:
- Mit Sprache rücken wir uns gegenseitig zu Leibe: „Mit unseren Worten berühren wir einander. Auch wenn wir keinen taktilen Kontakt zum Körper des Anderen haben, lösen unsere Worte doch eine ähnliche körperliche Resonanz aus.“
- Die Worte erwachsen aus der Physiologie des Leibes: Je nach dem, wie wir leiblich „drauf sind“, stellt „uns der Leib ein jeweils anderes Vokabular zur Verfügung“. Sprache emergiert. Veränderungen der körperlichen Haltung, verändern unsere Sprache.
- Auch wenn wir das Gleiche sagen, meinen wir nicht das Gleiche: Unsere leibliche Erfahrung lässt sich nur begrenzt in Sprache übersetzen. Denn nur ich habe diesen einmaligen Leib. Letztlich „sind und bleiben [wir] uns selbst und auch einander mehr oder weniger fremd“.
Für mich ist das sehr erhellend und vertieft mein Verständnis noch einmal: „Ich weiß nicht, was ich gesagt habe, bevor ich die Antwort meines Gegenübers gehört habe“ (Paul Watzlawick). Das ist richtig, aber bloß im Ansatz. Meine Rede ist durch den „Filter“ meines Gegenübers gegangen und seine Antwort trifft dann auf meinen „Filter“. Das meint Jürgen Kriz mit: Ringen um Verständnis.
Danke! Dessen bewusst sind sich tatsächlich wenige.
Ich habe den Beitrag auf Facebook geteilt.
Mir war das ja schon vor 30 Jahren klar, als ich noch Schülerin war. Daher habe ich mich dann auch mit der Sprache weiter beschäftigt und habe die geschilderte Beobachtung auch gemacht, dass es viele gar nicht in ihrem Bewusstsein haben, wie individuell unser jeweiliges Verhältnis zu vielen Worten ist. Es ist aber auch anderen Menschen klar, die darauf aufmerksam machen, dass jedes Wort ein Trigger sein kann für irgendjemanden. Man weiß das nie.
Bei mir persönlich führte das ja zum Studium der Sprachkünstlerischen Therapie, der Sprachgestaltung als Therapie, die Schwesternkunst der von Rudolf Steiner entwickelten Eurythmie. Dort sagt man ja, dass Rudolf Steiner in einer vorigen Inkarnation Aristoteles war. Ein wenig von dieser Deutungshoheit ist da noch übrig geblieben bei ihm, auch ein wenig ein männliches Problem meiner Ansicht nach und einer ganzen Gesellschaft, welche nach Leitfiguren sucht und gerade ihn als Leitfigur mit Deutungshoheit sieht. Er selbst dürfte – wenn man das mit der Reinkarnation denken will – etwas weiter gekommen sein.
Gerade die von und mit ihm entwickelte Sprachgestaltung und Eurythmie dann aber machen aufmerksam auf eine Kraft, die HINTER den Worten, sogar HINTER den Lauten steckt, aus denen heraus sich die Worte und die Sprache erst sogar entwickeln. Egal nun, wie man sich versteht, aber diese Kraft HINTER den Lauten ist etwas, was man sich erarbeiten kann und intuitiv dann auch am Menschen wahrnehmen kann, um ihn besser zu verstehen.
Liebe Grüße
Wibke Reinstein
Danke fürs Kommentieren und Teilen! – Auch wenn ich jetzt nicht so ein Rudolf-Steiner-Fan bin 😉