PRAXIS: Unsere Identität, wie auch die von Unternehmen, basiert auf Geschichten – erlebten und selbst konstruierten Storys. Da liegt es nahe, bei angestrebten Kulturveränderungsprozessen die Macht von Geschichten zu nutzen. Aber einfach neue Geschichten zu erzählen, funktioniert nicht. Eine Gruppenübung, bei der erzählt und zugehört wird, ist der ErzählRaum. Das Zuhören, auch „Story-Listening“ genannt, ist mindestens ebenso wichtig wie das Story-Telling (Die Macht der Geschichten).
Wer etwas verändern will, zum Beispiel in Sachen Unternehmenskultur oder Kundenzufriedenheit, der startet häufig mit einer Mitarbeiter- oder Kundenbefragung. Allerdings bekommt man hier nur Beschreibungen oder Meinungen auf Basis vorgefertigter Fragen. Was Mitarbeiter oder Kunden tatsächlich denken, zeigt sich aber viel deutlicher in den über das Unternehmen erzählten Geschichten. Diese bilden nicht die Wirklichkeit ab, sondern sind natürlich Konstruktionen derselbigen. Sie basieren auf konkreten Erlebnissen, verbreiten sich wie Viren in der Organisation und können sowohl identitätsstiftend (wenn sie von Mitarbeitern voller Stolz weiter gegeben werden) als auch demotierend wirken (wenn erzählt wird, wie sehr sich alles zum Negativen entwickelt hat).
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Story-Listening kommt vor Story-Telling
Wenn nun Unternehmenslenker versuchen, neue Geschichten zu „erfinden“, kann das schwer in die Hose gehen – nämlich dann, wenn diese im Widerspruch zu den bestehenden Storys stehen und damit unglaubwürdig sind. Umso wichtiger ist es, zuerst zuzuhören.
Eine Gruppenübung, die dieses Wechselspiel aus Zuhören und Erzählen berücksichtigt und zugleich versucht, neue Geschichten in die Welt zu setzen, ist der „ErzählRaum„. Sie kann in Teams, in Führungskreisen oder Projektgruppen eingesetzt werden, geeignet für 18 bis 24 Personen. Sei es einfach nur, um die derzeitige Kultur besser zu erfassen, zu verstehen, warum bestimmte Probleme (z.B. in einem Team, einer Abteilung, einem Projekt) auftreten oder um erste Ideen für eine erwünschte Kultur zu generieren.
Das Vorgehen
Im Raum befinden sich drei Tische mit jeweils sechs bis acht Stühlen. Ein Tisch steht für die Vergangenheit, einer für die Gegenwart und der dritte für die Zukunft. Die Moderationsfrage könnte lauten: „Erzählen Sie bitte ein typisches Erlebnis für die Zusammenarbeit in diesem Team, das schon länger zurückliegt.“ Oder: „… für den Umgang mit Regeln in diesem Unternehmen.“ Oder: „… für die Art der Führung in diesem Unternehmen …“ usw. (am Tisch „Vergangenheit“).
Am Tisch „Gegenwart“ wird die gleiche Frage gestellt, nur heißt es hier, „… das erst kürzlich passiert ist.“ Und am Tisch „Zukunft“: „Erzählen Sie eine konkrete Geschichte über die Zusammenarbeit in diesem Team (über den Umgang mit Regeln … die Art der Führung …), die Sie in Zukunft gerne erleben möchten.“
Zweiergruppen
Dann werden die Teilnehmer an den drei Tischen gebeten, in Zweiergruppen (Murmelgruppen) sich gegenseitig dabei zu helfen, ein Erlebnis zu finden. Auf diese Weise muss nicht jeder sofort in der Gesamtgruppe loslegen, was mitunter schwerfällt.
Dann erzählen sich an jedem Tisch die Teilnehmer ihre Erlebnisse, nach jeder Geschichte überlegt sich die Gruppe einen passenden Titel („Wie könnte die Geschichte heißen, wenn sie ein Film wäre?“). Die Titel werden auf Karten geschrieben und auf den Tisch gelegt.
Dann wechseln die Teilnehmer die Tische und es geht von vorne los, so dass am Ende jeder Teilnehmer zwei erlebte und ein erwünschtes Erlebnis erzählt hat.
Anschließend können im Plenum die Geschichten geclustert werden. Man kann nach Mustern oder Gemeinsamkeiten suchen und sogar konkrete Ideen entwickeln, damit bestimmte Erlebnisse seltener und andere häufiger oder überhaupt erst möglich werden.
Nach: Christine Erlach / Michael Müller – Die Macht der Geschichten. managerSeminare, 10/2020, S. 61