INSPIRATION: Immer wieder eine spannende Frage: Wie können Menschen in Organisationen „auf Augenhöhe“ miteinander agieren, wenn die einen „angestellt“ sind und die anderen das Unternehmen besitzen? Bleibt dann nicht immer das letzte Wort beim Inhaber? Versuche, daran etwas zu ändern, gibt es viele, selten aber so konsequent wie in dem folgenden Beispiel (Die Firma, das sind wir).
In Münster existiert eine etwas andere Unternehmensberatung. Anders, weil schon der Anspruch anders ist. Neue Kunden werden durch Empfehlungen gewonnen, niemand muss ungeliebte Projekte machen oder im Hotel leben. Weil man auf regionale Kunden und langfristige Beziehungen setzt. Das Credo der Gründer: Die Interessen der Mitarbeitenden sind genauso wichtig wie die der Kunden, auf beide muss individuell eingegangen werden. Und das führt zu der Schlussfolgerung: „Alle Entscheidungen sollten gemeinsam getroffen werden.“ Was sich erfahrungsgemäß nicht verträgt mit der Tatsache, dass Unternehmen in der Regel einigen wenigen gehören.
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Mitarbeitende am Unternehmen beteiligen
Die Inhaber, die sich inzwischen aus der Geschäftsführung zurückgezogen haben, widerstanden konsequenterweise der Versuchung, ihr Unternehmen zu verkaufen, auch wenn das Interesse groß war. Stattdessen übergaben sie es schrittweise der Belegschaft – der Prozess ist noch im Gange. Interessant ist die Form des Übergangs. Es gibt für Mitarbeitende drei Möglichkeiten:
- Eine stille Beteiligung: Wer zwei Jahre an Bord ist, zahlt einen Betrag an das Unternehmen (wenn er denn möchte) und hat damit einen Anspruch auf eine erfolgsabhängige Vergütung – er profitiert somit vom Erfolg, hat aber keine Mitspracherechte, haftet aber auch nicht über das eingesetzte Kapital hinaus.
- Beteiligung über eine Beteiligungsgesellschaft. Mindestens eine davon wird jährlich gegründet – ihr Zweck ist es, Aktien des Unternehmens zu erwerben und zu halten. Dazu ist die Firma zu einer AG ohne Notierung an der Börse umgewandelt worden. Auch diese Möglichkeit steht allen offen, die mindestens zwei Jahre dabei sind, die finanzielle Hürde ist allerdings höher. Ein Mitglied dieser Gesellschaft vertritt sie auf der Hauptversammlung, sie hat also ein Mitspracherecht.
- Wer längere Zeit Führungskraft im Unternehmen ist und maßgeblich Einfluss auf das Ergebnis hat, kann auch direkt Aktien erwerben und hat ein Stimmrecht auf der Hauptversammlung. Hier sind noch höhere Summen im Einsatz.
Niemand von außen kann Aktien erwerben, wer das Unternehmen verlässt, muss sie zum aktuellen Kurs verkaufen. Wer Aktionär werden will, muss von der Hauptversammlung namentlich bestätigt werden. Die Verteilung der Aktien geschieht möglichst gerecht unter den Interessenten, die sich einmal im Jahr über das Intranet melden können. Die Warteliste ist lang. Wichtiger Punkt: Niemand soll mehr zweistellige Anteile halten – zur Zeit ist das noch nicht so, aber das Ziel für 2024.
Bedürfnisse erfüllen
Spannend sind auch etliche weitere Merkmale der Unternehmenskultur. Egal, wie sehr Menschen an ihrer Organisation auch finanziell beteiligt sind, egal, wie groß ihr Mitspracherecht bei Entscheidungen ist: Vor Konflikten schützt das nicht. Eher im Gegenteil: Wenn viele mitreden dürfen, gibt es vermutlich mehr Anlässe für Meinungsverschiedenheiten. Bei Viadee, so heißt die Beratung, gibt es Vertrauenspersonen, die als Mediatoren angesprochen werden können. Vertriebler begleiten ein Projekt bis zum Ende und stehen für das, was sie verkaufen. Es gibt ein Datenblatt für jeden Mitarbeitenden, in dem auch verzeichnet ist, was diese wollen und was nicht.
Und offenbar hat man auch dort die Erfahrung gemacht, dass es keineswegs einfach ist, allen Bedürfnissen gerecht zu werden. Es ist schon schwierig, sie überhaupt zu benennen. Der Geschäftsführer legt in Gesprächen seinen Mitarbeitenden gerne mal eine Karte vor, auf der Gefühle und Bedürfnisse aufgelistet sind, um herauszufinden, worum es ihnen wirklich geht. Wer sich hier an die Gewaltfreie Kommunikation erinnert fühlt, der liegt wohl richtig: Der Geschäftsführer hat sich zum Trainer ausbilden lassen und 80 Kollegen bisher geschult.
Und was ist, wenn trotz all dieser Maßnahmen jemand doch nicht glücklich im Unternehmen ist? Dann wird auch der Austritt gemeinsam geplant, bis auf eine Ausnahme seien bisher alle „im Guten gegangen“.
Klingt gut, oder? Ich musste dennoch schmunzeln. Die Inhaber gaben ihr Unternehmen erst nach ihrem Rückzug nach und nach an die Belegschaft ab, vorher hielten sie wohl doch lieber die Zügel in der Hand. Aber besser spät als gar nicht, denke ich mir dann.