KRITIK: Modelle, die uns helfen, menschliches Verhalten zu verstehen, sind gefragt. Kürzlich stolperte ich über ein Phasen- oder besser Stufenmodell der menschlichen Entwicklung, von denen es sicher einige gibt. Es stammt von der amerikanischen Entwicklungspsychologin Jane Loevinger. Und es geht davon aus, dass wir im Laufe unseres Lebens verschiedene Stufen durchlaufen. Im Optimalfall alle, was aber selten der Fall ist.
Manche Menschen, so die Vorstellung, erreichen die höchste Stufe nie, sondern stecken auf einer unteren Stufe fest. Laut Loevinger kann man mit einem Satzergänzungstest recht gut ermitteln, auf welcher Stufe sich ein Mensch befindet. Hier mal in aller Kürze die Stufen 3 bis 10 ((Un)heilvolle Fragen) – die Stufen 1 und 2 (präsozial und impulsiv) finden in der Säuglings- und Kindheitsphase statt und können demnach nicht mit dem Test erfasst werden.
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Stufen der Entwicklung
- E3: Selbstorientiert: Auf dieser Stufe geht es Menschen um den eigenen Vorteil, andere Menschen dienen dazu, diesen zu sichern, wenn etwas nicht klappt, wird die Schuld bei anderen gesucht.
- E4: Gemeinschaftsbestimmt: Wir orientieren uns an Regeln, wollen unser Gesicht wahren und vermeiden Konflikte.
- E5: Rationalisitisch: Wir denken rational, orientieren uns an klaren Standards und wollen uns von anderen abheben.
- E6: Eigenbestimmt: Wir haben eine ausgebildete Identität, die sich an selbst defnierten Werten festmacht, streben nach Selbstoptimierung und akzeptieren, dass die Welt komplex ist.
- E7: Relativierend: Wir ahnen, dass die eigene Wahrnehmung für unsere Sicht der Welt verantwortlich ist, hinterfragen unsere Sichtweise und sind uns der Konflikte und Paradoxien bewusst.
- E8: Systemisch: Wir erkennen die Komplexität von Beziehungen, können widersprechende Meinungen integrieren und wollen uns weiter entwickeln.
- E9: Integriert: Wir sind nicht mehr an ein bestimmtes System von Werten gebunden, ordnen Erfahrungen immer wieder neu ein und können Paradoxien integrieren.
- E10: Fließend: Wir hören auf, Dinge und Menschen zu bewerten und akzeptieren die Andersartigkeit von Menschen.
Wenn wir so etwas lesen, bleibt es ja gar nicht aus, sich selbst sofort irgendwo einzustufen. Und natürlich fallen uns lauter Menschen ein, die offenbar auf einer der unteren Stufen stehen, vielleicht auch jemand, der sich auf einer höheren Stufe befindet.
„Reifer“?
Ich finde solche Modelle schwierig – vor allem, wenn man sie Führungskräften an die Hand gibt, die je nach Stufe, auf der sich ein Mitarbeiter befindet, entscheiden sollen, wie sie mit ihm umgehen müssen. Ähnliches kennen wir aus Persönlichkeitstheorien, die uns helfen, Menschen bestimmten typischen Verhaltensweise und Eigenschaften zuzuordnen. Diese Modelle sprechen allerdings nicht von höheren und niedrigen Stufen, die einzelnen Typen stehen nebeneinander, keiner ist dem anderen überlegen – meistens wenigstens nicht.
Bei den Stufenmodellen sieht das anders aus. Natürlich steckt dahinter die Idee, dass einzelne Menschen weiter entwickelt sind als andere, sie sind „reifer“, fortgeschrittener, letztlich „erwachsener“. Wer möchte schon auf der selbstorientierten Stufe stehen bleiben?
Das Schwierige daran ist, dass ein solches Modell vorgaukelt, Menschen ließen sich wirklich eindeutig diesen Kategorien zuordnen. Was schon sehr einfach zu widerlegen ist: Den Menschen möchte ich sehen, der nie anderen eine Schuld an etwas zuweist – demnach befindet er sich zumindest in diesen Momenten auf der E3. Und ist es denkbar, dass es Menschen gibt, die niemals, unter keinen Umständen, die Andersartigkeit von anderen akzeptieren (E10)? Es geht also um ein mehr oder weniger von all diesen Einstellungen und Verhaltensweisen, und da mag sich jeder fragen, zu welchen er besonders oft tendiert.
Aber wenn wir mit diesem Kategorien-Schema durch die Welt laufen und Menschen darin einsortieren, laufen wir Gefahr, die klassische selbsterfüllende Prophezeiung zu erleben: Menschen werden sich entsprechend unserer Vorstellung von ihnen verhalten. Und ja, auch das ist auch nur ein Gedanken-Modell …