INSPIRATION: Ich blende einmal etwas mehr als 15 Jahre zurück (Ja, ich kann das, ich bin Babyboomer!): Damals moderierte ich eine Podiumsdiskussion in Aachen. Meine Frage an die Experten in der Runde – alles Personaler großer, aber auch kleinerer Unternehmen – lautete: „Dass der demografische Faktor ein Problem ist, wissen wir schon seit den 1990er-Jahren. Was machen Sie in Ihren Unternehmen konkret, um sich darauf einzustellen?“ Was denken Sie, werte Leser*innen, haben ich und das Publikum zu hören bekommen? „Och,“ sagte der eine, „Wir arbeiten saisonbedingt viel mit Aushilfen. Da haben wir bislang immer noch genügend Arbeitskräfte bekommen.“ – „Bei uns ist das ähnlich“, sagte der Zweite. „Aber da kommt doch ein Tsunami auf uns alle zu!“ gab ich zu bedenken. Achselzucken. Es hätte nur noch gefehlt, dass ein Gesprächspartner gesagt hätte: „Bis das schwierig wird, bin ich eh in Rente“.
Nun sind die Herrschaften (es saß keine Frau in der Runde) vermutlich doch schon in Rente oder stehen kurz davor. Und das Personalmagazin macht aktuell (8/22) mit dem Schwerpunkt „Eine Generation geht in Rente“ auf. Die Autoren vom IAB der Bundesagentur für Arbeit legen uns die Fakten (Tschüss, Babyboomer) auf den Tisch: „16 Mio. Menschen gehen bis 2035 in Rente.“ „400.000 Personen Nettozuwanderung sind jährlich erforderlich, um das heutige Niveau zu halten.“ „45,2 Mio. Erwerbstätigen stehen aktuell 21,2 Mio. Rentnerinnen und Rentner gegenüber.“ Das sind heftige Aussagen! Und die Auswirkungen spüren wir heute schon – siehe oben. Beim Blick zurück und der Frage, warum denn nicht längst schon Maßnahmen ergriffen wurden, könnte einem das Wort „Beamtenmikado“ in den Sinn kommen. Was natürlich ungerecht wäre: Auch Nicht-Beamten haben ihren gewichtigen Teil zur Lage beigetragen. Nennen wir es neutraler: Verantwortungsdiffusion.
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Verantwortungsdiffusion
Was kann uns helfen: Nettozuwanderung ist ein großer Hebel. Die Forscher beschreiben drei realistische Szenarien: Vom Nichtstun bis zur besagten jährlichen Nettozuwanderung von 400.000 Personen. Wobei „netto“ bedeutet: Sie müssen auch hierbleiben und nicht zurück oder anderswohin weiterziehen, die Migranten. Weitere Ideen: Die Frauenarbeitsquote könnte man anheben. Zu dumm nur, dass die unter den Migranten eher unterdurchschnittlich ausgeprägt ist (20% im Vergleich mit den deutschen Frauen mittlerer Jahrgänge: 90%). Und die Älteren, also die Babyboomer, sollen länger arbeiten. Die sind doch alle noch fit wie ein Turnschuh! Das IAB prognostiziert, dass „die Erwerbsquote bei den 60- bis 64-jährigen Männern von derzeit 74 Prozent bis 2030 auf 82 Prozent“ steigen wird. Die Quote der Frauen liegt leicht darunter: 67 Prozent (heute), 70 Prozent bis 2030. Soll das eine Drohung sein? Zwischen dem 65- und 69sten Lebensjahr sieht es dann aber enger aus: 30 Prozent (2020) gegenüber prognostizierten 52 Prozent im Jahr 2030, die dann noch arbeiten werden.
Nun spielen neben dem demografischen Faktor noch weitere Aspekte eine Rolle: Die Pandemie und die ökologische Transformation, die ja nicht zuletzt durch die Kriegsauswirkungen umso dringlicher wird. Von der man aber nicht so richtig weiß, wer sie denn stemmen soll, weil: Fachkräftemangel. Die volkswirtschaftlichen Forscher predigen Anpassungen an den Arbeitsmarkt: Bessere Angebote bei Kinderbetreuung und Pflege sowie Arbeitsanreize (Steuern und Sozialabgaben). Und bessere Integration in den Arbeitsmarkt, Weiterbildung, Prävention und – die Idee hat mir am besten gefallen – „ein breites Umdenken“!
Zu spät?
Nun, wer sich ein wenig mit solchen Szenarien auskennt, weiß, mit Prävention hätte man vor 20 Jahren anfangen sollen. Wenn man (erst) jetzt damit beginnt, kommen wir (vielleicht) 2042 ans Ziel. Ich liebe meine volkswirtschaftlichen Kollegen! Sie argumentieren wie Katholiken: Sub spezies aeternitates. Also neudeutsch: on the long run. Ich fürchte, 2042 ist nicht mehr wirklich mein Horizont. So bleiben also nur noch die Migranten als Hoffnung – aber vermutlich ohne Prävention, Weiterbildung und Integration. Zitat: Fachkräfteeinwanderungsgesetz (…) „geht das Gesetz in die richtige Richtung, dürfte aber unzureichend sein,“ argumentieren die Forscher. Bitter irgendwie.
Bleiben noch die „Reservisten“, die Langzeitarbeitslosen. Tja, wie gesagt, von der Aussichtsplattform hoch am Kölner Dom aus betrachtet, sieht die Welt so friedlich aus. Vor allem sieht man die konkreten Schwierigkeiten an der Basis da unten nicht (so genau).
Kultur bremst
Halten wir einmal fest: Überall da, wo der Volkswirt sogenannte Hebel vermutet, trifft er auf Kultur. Und die ist brutal konservativ, zählebig und im Zweifelsfall renitent. Sinnen wir nun doch noch ein wenig der Frage nach, wie man es den Babyboomern attraktiv machen kann, länger zu arbeiten (Verweilt doch noch…). Eins ist klar: Die Kolleginnen und Kollegen sind maximal erfahren, kompetent und haben nicht selten Lust, noch produktiv zu sein. Die Frage ist, ob sie erwünscht sind. Und da melden sich gleich heftige Zweifel an. Hat man ihnen nicht die letzten Jahre klar gemacht, dass sie keine Rolle mehr spielen (werden)? Man hat sie isoliert, ihnen die Weiterbildung verweigert (lohnt ja nicht mehr). Fachausdruck: The grey sideline. Abschiebebahnhof. „In verschiedenen Studien wurde deutlich, dass zwischen 20 und 50 Prozent der Über-50-Jährigen am Arbeitsplatz diskriminiert werden.“ Nennen wir es ehrlicherweise: Altersdiskriminierung. Die Konsequenz: Wer nicht wertgeschätzt wird, zieht sich zurück, macht Dienst nach Vorschrift … „Es sind ja nur noch ein paar Jahre“, sagt man sich und: „Wenn die Herrschaften meinen …“ Doch dann kommt der Tag X für die Babyboomer. Erst ist es eine Befreiung, doch nach zehn Monaten dreht man am Rad, langweilt sich. Jetzt bräuchten beide Seiten eine professionelle Kupplerin, um wieder ins Gespräch (Geschäft) zu kommen.
Aber vielleicht findet das Gespräch nicht statt oder scheitert daran, dass man sich bei den Konditionen nicht einigen kann. Die Autoren raten an dieser Stelle zum Coaching. Well, gute Idee, gute Geschäftsidee: Schritt 1: Was brauche ich für ein erfülltes Leben im Alter? Schritt 2: Analyse meines sozialen Umfelds (Gibt es da etwa Enkel, die etwas von mir wollen?), Schritt 3: Was sind meine Ziele? Schritt 4: Wie komme ich nun ins Gespräch?
Ach, was soll ich sagen: Die einen versaufen lieber der Oma ihr klein‘ Häuschen. Die anderen machen Sport, kümmern sich um die Enkel und gehen ihren Hobbies nach. Und ein paar Verrückte engagieren sich, gründen vielleicht oder beraten (aber natürlich nicht das alte) Unternehmen. Die Norbert-Frage bleibt natürlich noch spannend: Ob die Rente sicher bleibt? Und die etablierten Unternehmen, was machen die? Ich würde mal so sagen, das was sie schon immer gemacht haben: Muddling through. Dass es den großen Knall geben wird, ein Wunder … „und wenn Sie dann morgen in der Früh’ aufwachen, und es ist ein Wunder geschehen, und Sie haben davon ja gar nichts mitbekommen, weil Sie ja geschlafen haben, woran werden Sie merken, dass ein Wunder geschehen ist?“ Dann dreh‘ dich besser noch mal um und schlaf‘ noch ’ne Runde.