KRITIK: Die Soziologie ist eine eigene Wissenschaft, gelegentlich könnte man den Eindruck gewinnen: eine eigenwillige. Bedauerlich in den Augen des Betrachters, wenn man den Eindruck gewinnt, das Denken tendiere dazu, selbstreferenziell bloß in den eigenen Bahnen zu zirkulieren und den Anschluss an den Rest der Welt dabei aus den Augen zu verlieren. Es mögen dabei gelegentlich schöne Theorien entstehen. Ob das gute Theorien sind, also solche, um Kurt Lewin zu zitieren, die für die Praxis hilfreich sind, mag so offenbleiben.
Damit keine Missverständnisse entstehen: Abstruses findet sich auch immer wieder in anderen Wissenschaften. Und formulierte Karl Popper seinerzeit nicht schon hellsichtig: „Die Wissenschaft befindet sich stets auf dem neuesten Stand des Irrtums.“ Auch das möge man nicht missverstehen in einer Zeit, in der Esoterik und Verschwörungstheorien Zulauf finden, doch die geneigte Leserschaft ahnt es längst: Der Beitrag von Paul Rheinbacher (Jenseits der Sinnstiftung) kann den Rezensenten nicht überzeugen, im Gegenteil, er provoziert zur Gegenrede.
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Führung im Medium der Emotion
Im Rahmen des Themenschwerpunkts „New Leadership„ beschäftigt sich dieser Beitrag mit „Führung im Medium der Emotion,“ so der Untertitel. Und damit beginnt auch schon das ganze Elend, denn Emotion ist natürlich kein Medium. Auf diese abenteuerliche Idee muss man erst einmal kommen! Es gelingt, indem man direkte Anleihen beim Soziologie-Urgestein Talcott Parsons (1902-79) macht. Parsons hatte seinerzeit postuliert, „dass Systeme zum langfristigen ‚Überleben‘ zumindest vier Funktionen sicherstellen müssen: Anpassung an die Umwelt (adaption), Festlegung von gemeinsamen Zielen (goal attainment), Integration ihrer arbeitsteiligen Subsysteme (integration) und Aufrechterhaltung latenter Strukturen (latency).“
Hieraus entwickelt Autor Paul Rheinbacher nun ein wundersames Vier-Felder-Spiel, das man mit dem alten chinesischen Orakel „I Ging“ vergleichen mag, welches ebenfalls durch Permutation weniger Grundelemente entsteht. So werden unter der Überschrift „Führung als System“ vier Aspekte angeführt: Verhalten, Persönlichkeit, Sozialdimension, Kulturbezug. Rheinbacher wendet diese Unterscheidung selbstähnlich gleich wieder differenzierend auf einen Aspekt (Sozialdimension) an, um diese Aspekte sogleich als Medien (Sondersprachen) zu bezeichnen und sie stante pede in Sanktionen zu übersetzen: Geld, Macht, Einfluss und Verpflichtung. Man mag diesen Gedankengang hilfreich finden oder nicht, notiert werden muss an dieser Stelle, dass die vier Dimensionen schlicht gesetzt werden. Man könnte auch sagen, es ist willkürlich. Der Zusammenhang der Vier-Felder-Tafeln wird nicht erklärt, hier fehlen auch Achsenbezeichnungen oder Maße.
Der nächste bemerkenswerte Argumentationsschritt des Autors lautet, Parsons habe gezeigt, „dass Handeln in seiner sozialen Dimension auch wesentlich emotional strukturiert [ist].“ Dabei geht es Autor Rheinbacher nicht um die „Steuerung individueller Gefühlshaushalte,“ sondern darum, emotional symbolisierte Medien generalisiert zu nutzen: Enthusiasmus (Aussicht), Ehrfurcht (Achtung), Erotik (Anziehung) und Ekel (Ablehnung). Dies führt ihn nun dazu, entsprechende Führungsrollen (Typologie) zu postulieren: Entdecker/Unternehmer, Propagandist/Politiker, Künstler/Wissenschaftler und Priester/Pädagoge.
Skuriles Gedankengebäude
Was soll man sagen? Hat sich hier jemand verritten? Oder lebt er schlicht in einer anderen Welt? Meine Welt und die vieler anderen, die sich mit Führung in Organisationen beschäftigen, ist maßgeblich geprägt durch die emotionale Wende in den Neurowissenschaften seit den 1990er-Jahren. Als bahnbrechendes Buch sei Die emotionalen Grundlagen des Denkens von Luc Ciompi (1999) genannt. Hierzulande haben renommierte Neurowissenschaftler wie Gerald Hüther und Gerhard Roth maßgeblich zu Verbreitung der neuen Erkenntnisse publiziert. Das Zürcher Ressourcenmodell (ZRM®) als praktischer Ansatz hat sich erfreulicherweise in der Weiterbildung etabliert. Und zuletzt haben Alica Ryba und Gerhard Roth ein neurowissenschaftlich fundiertes Integrationsmodell fürs Coaching vorgelegt. Autor Rheinbacher nimmt bedauerlicherweise auf nichts davon Bezug. Möge er das doch bitte nachholen, dann können wir weiterreden. Bis dahin betrachte ich seine Ausführungen schlicht als l’art pour l’art.