26. Juli 2024

Management auf den Punkt gebracht!

Kreisstrukturen und Selbstverantwortung

REZENSION: Barbara Strauch / Annewiek Reijmer – Soziokratie. Kreisstrukturen als Organisationsprinzip zur Stärkung der Mitverantwortung des Einzelnen. Vahlen 2018.

Über Soziokratie und Holokratie liest man im Moment an allen Ecken und Enden – aber wer weiß eigentlich, was sich dahinter genau verbirgt? Zum ersten Begriff gibt es jetzt ein sehr umfassendes und vor allem pragmatisches Buch, das keine Wünsche offen lässt. Und das mit einem großen Versprechen endet: „Auf diese Weise können wir alle Probleme unserer Zeit lösen“. Das ist ein hoher Anspruch, aber wer sich ernsthaft bemüht, das Modell nicht nur als Utopie zu begreifen, sondern seine Prinzipien zu verstehen und anzuwenden, der ist geneigt, den Autorinnen zuzustimmen.


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Allerdings sollte er sich vorher mit der Beschreibung des Modells in allen Facetten und den vielen Beispielen aus der Praxis der Autorinnen beschäftigt haben. Und sich überlegen, ob er in einer Welt leben möchte, die nach den folgenden vier Prinzipien funktioniert und in der er deshalb auf Macht verzichtet.

4 Prinzipien

  1. Das Konsent-Prinzip: Entscheidungen, in klassischen Hierarchien am Ende eine Sache der Führungskraft, werden im „Konsent“ getroffen. Bedeutet: Ein Vorschlag gilt als angenommen, wenn niemand einen schwerwiegenden Einwand erhebt. Es gibt also keine klassische Abstimmung und keine Entscheidungen per Mehrheit. Schwerwiegend bedeutet: Ein Vorschlag gefährdet das Ziel oder die Organisation selbst. Ob ein Einwand als schwerwiegend gilt, entscheidet allein derjenige, der den Einwand erhebt.
  2. Das Kreis-Prinzip: Jedes Mitglied einer Organisation ist Mitglied in mindestens einem Kreis – vergleichbar mit einem Team. Jeder Kreis hat eine klar formulierte Bestimmung oder Zielsetzung. Es gibt in jedem Kreis vier unterstützende Rollen: Die Gesprächsleitung, die Kreisleitung (gefällt mir schon mal ungemein: Leitung und Gesprächsleitung sind getrennt),  Delegierte und einen Logbuchführer. Wie in allen Organisationen gibt es natürlich weitere Rollen, z.B. Projektleiter, Produktentwickler, Außendienstler etc.
  3. Die doppelte Koppllung – hier kommen die Delegierten ins Spiel. Es gibt  nämlich durchaus eine Hierarchie – aber eine Hierarchie von Kreisen. Alle Kreise einer Ebene entsenden zum einen den Kreisleiter (der vom übergeordneten Kreis eingesetzt wird) und einen Delegierten in den Kreis der nächsten Ebene. Das ist eine höchst schlaue Lösung – auf diese Weise sitzen eben nicht nur „Führungskräfte“ zusammen und entscheiden, sondern immer Kreisdelegierte. Und da in jedem Kreis im Konsent entschieden wird, werden die Interessen alle Betroffenen immer gewahrt.
  4. Die offene Wahl: Für jede Rolle wird eine offene Wahl durchgeführt. Dabei begründet jeder, warum er sich für jemanden entschieden hat. Am Ende macht der Wahlleiter einen Vorschlag und wenn es keinen schwerwiegenden Einwand gibt (Konsent-Prinzip) ist die Rolle vergeben.

Ein paar offene Fragen

In dem Buch wird die Anwendung dieser vier Prinzipien sehr ausführlich und mehrfach dargestellt. Was aber nur am Anfang etwas „langweilig“ ist. Denn nach und nach wird klar, vor welchen Herausforderungen Organisationen stehen, die sich in Richtung Soziokratie verändern wollen. Was ist mit geltendem Recht? Was passiert bei Kündigungen? Wie werden Gehälter festgelegt? Wie integriert man die Inhaber in das Modell? So wie mögliche Aktionäre bei einer AG? Braucht man noch eine Mitgliederversammmlung (z.B. wie im Verein)?

All das erscheint machbar, wenn vermutlich auch erst in wenigen Organisationen umgesetzt. Mehr noch: Man könnte sich mit dem Gedanken anfreunden, auch Kommunen, Städte und Länder nach den Prinzipien zu führen. Übertrieben? Glaube ich nicht, allerdings erfordert das schon ein gewaltiges Umdenken. Es bedeutet, dass Mächtige Macht abgeben und „Ohnmächtige“ anfangen, Verantwortung zu übernehmen. Eine schöne Vorstellung!

Wenn Sie jetzt jede Menge Einwände haben, lesen Sie das Buch. Es gibt dort ein Kapitel (6.2: Von den Widerständen bis zum Gelingen soziokratischer Organisation), in dem alle möglichen Bedenken, die nach den Erfahrungen der Autorinnen vorgebracht werden, aufgeführt sind. Dort sind Sie prima aufgehoben. Nur ein Beispiel: Führungskräfte fürchten, dass sie überstimmt werden und Einfluss verlieren. Aber in der Soziokratie kann man nicht überstimmt werden. Führungskräfte können wie alle anderen schwerwiegende Bedenken vorbringen und so einen Vorschlag stoppen. Aber was heißt schon stoppen: Vorschläge, gegen die es schwerwiegende Einwände gibt, werden so variiert, dass die Bedenken berücksichtigt werden. Eben auch die Bedenken der Führungskräfte.

Noch zur Praxistauglichkeit: Natürlich wird auch hier immer wieder betont, dass man sich externe Expertise einholen sollte, wenn man eine Organisation verändern möchte. Das ist sicher ein guter Rat, und durch ein Buch allein wird man kaum zum Anwendungsfachmann. Dennoch bietet dieses Werk all das Wissen, das man benötigt, um ein solcher Experte zu werden. Ich werde das Buch auf alle Fälle weitergeben – ein bisschen Missionar steckt in mir …

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