KRITIK: Cynefin ist ein walisisches Wort, das (ausgesprochen: Kü-Ne-Win) grob übersetzt so etwas wie Domäne meint. Cynefin ist in aller Munde, seitdem man sich in der Wirtschaft an Agilität versucht. Also am Gegenteil des gewohnten Managements: Alles soll schneller gehen, möglichst ohne Hierarchien, und immer mit absolutem Customer-Focus. Entledigt man sich – quasi im Rundumschlag – aller bewährten Strukturen und Regeln, verliert man aber schnell den Überblick. Das kann zu Aktionismus und zum Durchwursteln verleiten, vielleicht sogar dazu, dass man die erfahreneren Kollegen bekannten Sackgassen auch noch eigenständig erkundet, oder sogar das altbekannte Rad überflüssigerweise neu erfindet. Wie kann man also entscheidungsstark werden, ohne wieder zum ungeliebten Arbeitsmodus der Mütter und Väter zurückzukehren? Zu Eisenhower-Matrizen, Projektstrukturplänen und so weiter.
Nun, mit einer Neuerfindung eben! Dave Snowden hat sich das Modell vor 20 Jahren ausgedacht. Seine Grundüberlegung lautet: One-size-fits-all funktioniert nicht. Entscheidungen (Lösungen) sind nicht kontextfrei. Klingt irgendwie sympathisch und neu, ist aber überhaupt nicht neu. Denn die Krise des Taylorimus währt schon etwas länger. Seit Jahrzehnten beschäftigen sich Forscher und Unternehmenspraktiker genau mit diesem Phänomen. Weil die Märkte immer volatiler, die Kundenwünsche immer individueller, die technologische Entwicklung immer rasanter wurden. So könnte man die Einführung von Gruppenarbeitsformen in der Wirtschaft in den 1990er-Jahren schon als revolutionäre Antwort auf diese neuen Anforderungen interpretieren und würdigen. Wenn man sich noch daran erinnern würde. Viele Mitarbeiter in Unternehmen blicken heutzutage eben nicht auf eine über zwanzigjährige Arbeitsbiografie zurück.
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Klingt geheimnisvoll, verlockend, auf jeden Fall neu
Und den etwas Älteren gefällt vielleicht auch das neue Buzzword ganz gut: Cynefin – klingt geheimnisvoll, verlockend, auf jeden Fall neu, vielleicht sogar wie ein Medikament gegen Kopfschmerzen? Cynefin unterscheidet fünf Domänen: klar, kompliziert, komplex, chaotisch sowie aporetisch/konfus. Damit werden Ordnungsgrade von Situationen bezeichnet. Fürs Handeln bedeuten diese Unterscheidungen, dass man im Falle von Klarheit auch klare Lösungen zur Hand hat. Im anderen Extrem (Konfusität) jedoch gar nicht: Besser man wartet ab, denkt und forscht nach, was eigentlich Sache ist. So weit, so einfach. Eine anspruchsvolle Definition dieser Aspekte fehlt im Beitrag (Kontext für die Konfusion. Entscheidungshilfe Cynefin). Warum man diese Abstufungen nun auf eine Vier-(bzw. Fünf-)Felder-Matrix projizieren muss, bleibt ebenfalls erklärungsbedürftig.
Das methodische Vorgehen von Cynefin ist denkbar einfach: Man sammelt alle Arbeitsprobleme, schreibt sie auf Karten und pinnt sie in die Mitte der Matrix. Von dort aus verteilt man sie in einer Gruppendiskussion auf die Felder. Ist der Aspekt klar? Dann wird er entsprechend zugeordnet und somit gleich zur Erledigung mit einer Best-Practice-Methode notiert. Ist der Aspekt kompliziert? Dann holt man sich Experten für die Lösung. Ist der Aspekt komplex? Dann muss man die Komplexität tiefer erkunden und verschiedene Lösungen ausprobieren (Agilität). Ist der Aspekt chaotisch? Dann ist zunächst Schadensbegrenzung angesagt (Feuerwehreinsatz). Ist der Aspekt konfus? Dann braucht man mehr Informationen. Am besten lässt man die Dinge liegen: „Kein Ergebnis ist auch ein Ergebnis.“
Sind die Probleme da, müssen sie verschwinden
Wer Probleme hat, ist selbst bald eins. Divide et impera, teile und herrsche, nannten die alten Römer solches Vorgehen schon. Und so kann man sich leicht ausmalen, dass sich in solchen Gruppendiskussionen schnell ein gewisser Druck in Richtung Lösung aufbaut. Man kennt das längst aus dem klassischen Projektmanagement mit seinem Ampelsystem. Mitarbeiter werden einen Teufel tun und die Reißleine ziehen (Wassermelonen-Reporting)!
Wie alle solche Vier-Felder-Methoden (z.B. Persönlichkeitstypologien) offenbart auch dieser Ansatz die Schwierigkeit, dass man lange über den konkreten Grenzverlauf diskutieren kann. Ist das Problem nun klar oder kompliziert? Oder vielleicht doch komplex? Und was macht man, wenn man sich geirrt hat? Was unterscheidet denn kompliziert von komplex? Schaut man sich die zahlreichen Erklärungsversuche agiler Protagonisten im Netz oder in der Literatur an, könnte man sich Sorgen machen. „Vier-Felder-Matrizes wirken auf den ersten Blick sehr überzeugend. Sie verleihen einer Idee, und mag sie noch so fragwürdigen Quellen entspringen, eine Aura wissenschaftlicher Logik. Dabei haben viele Kritiker matrixförmiger Marketingkonzepte früh darauf hingewiesen, dass es des Blicks hinter die Achsen einer jeden Matrixdarstellung bedarf, um deren Rationalität oder Qualität auf die Schliche zu kommen,“ spottete Nils Pfläging in einem LinkedIn-Beitrag (Der Fluch der Vier-Felder-Matix).
Ohne die Beschäftigung mit der modernen Systemtheorie (Kleine Weiterbildung in Systemtheorie) wird man schwerlich ein angemessenes Verständnis entwickeln können. Mit der Popularisierung der Begrifflichkeiten schüttet man leicht das Kind mit dem Bade aus: Starkregen hat es doch in jeden Sommer gegeben …