KRITIK: Erinnern Sie sich noch an die Blue-Ocean-Strategie? Vor ca. 20 Jahren hatten die Insead-Forscher Chan Kim und Renée Mauborgne damit die Fachwelt beeindruckt, dass sie Unternehmen gefunden hatten, die auf eine neue Art Wachstum erzielt haben. Statt direkten Konkurrenten Anteile wegzuschnappen, hatten sie es geschafft, auf anderen Feldern Marktanteile zu gewinnen. Damit gelang es, für die eigenen Branche neue Kunden zu gewinnen (Blue Ocean Leadership). Ein typisches Beispiel ist die Airline, die mit Billigangeboten Reisende anlockt, die sich bisher keine Flüge leisten konnten und deshalb z.B. mit Bahn oder Bus reisten.
Dann kam die ganz neue „Entdeckung“ der Disruption nach Clayton Christensen. Nun war das große Ding, dass neue Technologien in der Lage sind, erfolgreiche Produkte oder Dienstleistungen komplett zu ersetzen und vom Markt zu verdrängen. Das Handy mit Touchscreen oder Digitalkameras sind die bekanntesten Beispiele. Seitdem bibbern viele Unternehmen, weil ihnen vor allem in Sachen Digitalisierung das schnelle Ende angekündigt wird.
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Jetzt haben die „Entdecker“ der Blue-Ocean-Strategie“ einen neuen Weg gefunden. Sie erklären, dass es gar nicht nötig ist, bestehende Märkte zu zerstören. Sie nennen das „Nondisruptive Kreation“, danach müssen weder Konkurrenten vernichtet werden noch auf anderen Märkten gewildert werden. Wachstum soll möglich sein, indem man außerhalb bestehender Branchen aktiv wird und Märkte erschaffen werden, wo bisher keine waren.
Die ultimative Lösung?
Das klingt nach der ultimativen Lösung. Denn wer anderen Marktanteile wegschnappt, erzeugt ebenso soziale Kosten wie diejenigen, die andere völlig vernichten. Uber macht Taxifahrer arbeitslos, Amazon hat den stationären Buchhandel und große Teile des Einzelhandels zerstört, Arbeitsplätze verschwanden, Stadtteile verwaisten. Sicher, es entstanden parallel dazu neue Arbeitsplätze, Amazon dürfte einer der größten Arbeitgeber weltweit sein. Aber es sind andere Jobs, vor allem in der Logistik, die Umstellung dürfte eine Menge „soziale Kosten“ verursacht haben, die nur schwer zu beziffern sind.
Wie wäre es also, wenn Unternehmen tatsächlich neue Märkte schaffen könnten, ohne alte zu vernichten – mit all den Folgen, die dies hat? Bei denen es keine Verlierer gibt? Die Autoren (Wie entsteht das Neue?) haben etliche Beispiele gefunden und daraus natürlich Tipps abgeleitet. Zuerst die Beispiele:
- Monatsbinden: Früher mussten sich die Frauen mit Stoffresten selbst helfen, mit Monatsbinden wurde ein völlig neuer Markt erschlossen, der heute 22 Milliarden Dollar im Jahr schwer ist.
- Mikrofinanzierungen: Die Grameen Bank des Nobelpreisträgers Yunus eröffnete Menschen die Möglichkeit, unternehmerisch tätig zu werden, die zuvor niemals eine Chance hatten, einen Kredit einer Bank zu bekommen. Die „alten“ Banken dürften hierdurch kaum Kunden verloren haben.
- Die Sesamstraße: Hier lernten die Kinder Rechnen und Schreiben, trotzdem wurden die Schulen nicht überflüssig.
- Kickstarter: Künstler und Selbstständige können hier Kapital einsammeln von Menschen, die zuvor kein Geld in Unternehmen investiert haben, ohne dass die Finanzbranche Marktanteile abgeben musste.
Nondisruptive Innovationen schaffen also Neues, ohne Altes zu zerstören, sie machen demnach eine „sozialere Form des Kapitalismus“ möglich. Die Welt sei dabei zu erkennen, dass die reine Gewinnmaximierung doch nicht der einzig wahre Weg ist, um Innovationen voranzutreiben und Wachstum zu generieren. Da kommt die Nachricht, dass es auch anders geht, gerade rechtzeitig.
Ungelöste Probleme suchen
Aber wie kommt man dahin? Indem man ein neu aufgetretenes oder ein altes, bisher nicht gelöstes Problem aufspürt und dazu eine Lösung entwickelt. Hier weitere Beispiele aus der Vergangenheit: Die Spülmaschine, der Scheibenwischer, Viagra – alles nicht-disruptive Innovationen. Oder der Square Reader, der Kleinunternehmern und Selbstständigen die Möglichkeit gibt, auch Zahlungen per Kreditkarte entgegenzunehmen. Oder der chinesische Fischfutterhersteller Tongwei, der Solarpanels über den großen Wasserflächen der Fischfarmen installiert und damit nicht nur jede Menge grünen Strom erzeugt, sondern die Wassertemperatur in den Becken senkt und damit den Algenwuchs mindert.
So einfach ist das also: Gehen Sie auf die Suche nach ungelösten Problemen, finden Sie eine Lösung und erzeugen damit Wachstum, das woanders weder Branchen noch Arbeitsplätze vernichtet. War das nicht immer schon typisches Unternehmertum? Was ist daran eine neue Entdeckung? Non-disruptive Innovationen werden Menschen kaum daran hindern, neue Dinge zu erfinden, die alte vernichten. Das Automobil und die Eisenbahn vernichteten die Pferdekutschenbranche, und das iPhone schuf auch neue Märkte für Probleme, die so vorher niemand hätte benennen können. Dass man sehr langsam von A nach B kam, war einfach „normal“, und dass man in der Straßenbahn Bücher las statt Nachrichten zu lesen oder Textnachrichten mit Freunden austauschte, ebenso.
Vielleicht lautet die Botschaft: Schaut euch lieber die Probleme an, die uns das Leben wirklich erschweren und findet hierfür Lösungen. Statt um noch schnellere Übertragung von Daten oder um Weltraum-Tourismus kümmert euch lieber um zu volle Schulklassen, ungerechte Verteilung von Ressourcen und bezahlbaren Wohnraum. Das wäre dann tatsächlich sozialer …