KRITIK: „Das war doch eine andere Zeit,“ lässt die Autorin Ronja Siemens (Quo vadis, betriebliche Weiterbildung?) Trainer Klaus Doll auf die betriebliche Weiterbildung im Jahr 2000 zurückblicken. Und was haben wir heute? Statt drei- bis fünftägige Seminare, in denen tiefes Lernen und viel Interaktion stattfand sowie Networking betrieben wurde, gibt es heute eintägige „Schnellbesohlungen“. So drückt das die Autorin nicht aus – aber ich. Was wir in den letzten 20 Jahren in diesem Bereich erlebt haben, darf man getrost einen Niedergang nennen. Mitarbeiter werden mit dem Lernen allein gelassen. Ein geschicktes Reframing adelt das zum Selbstlernen.
Und so suchen die Mitarbeiter sich dann durchs Internet, das ja nicht nur hochwertigen Content zu bieten hat, sondern auch ein riesiger Müllhaufen ist. Dort findet man leicht kleine Tutorials wie „5 Tipps zu effektiver Führung“ – oder andere Plattitüden, Vorurteile oder verzweifelte Durchhalteparolen der resilienten Art. Es wäre naiv zu glauben, dass die „Workforce Performance“ auf diese Weise gesteigert werden kann. Oder man greift in der Personalentwicklung zur Online-Katalogware globaler Bildungskonzerne: Von allem und für alle etwas, also keinen maßgeschneiderten Content, der nötig wäre. Nürnberger Trichter 4.0.
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Arme Mitarbeiter!
Ok, ich bin ein Baby Boomer. Ich bin scheinbar ahnungslos und voreingenommen, so unterstellt man mir. Denn seit dem Jahr 2007 gibt es das iPhone als ständigen Begleiter der jungen Generation, argumentiert die Autorin Sonja Siemens. Ok, Image war mir nie so wichtig, ich habe „bloß“ ein Samsung-Smartphone. Und, zweites Argument, ich bin kein Digital Native. Ach, wirklich? Vor einiger Zeit sagte eine Studierende zu mir: „Wissen Sie, Herr Webers, die über 50-Jährigen haben ja gar keine Ahnung vom Internet.“ Wie bitte?! Ich antwortete ihr: „Sehen Sie, ich war schon im Internet – mit einem 28K-Modem – da waren Sie noch nicht geplant. Ich habe schon in den 1980er-Jahren mit einem Computer gearbeitet. Was erzählen Sie mir also für ein Zeugs? Ich sage Ihnen, viele in Ihrer Generation nutzen diverse Apps auf dem Smartphone, ohne zu wissen, was sie eigentlich tun. Und das (!) ist ein Problem.“
Und so fehlen mir auch die Worte, wenn Autorin Sonja Siemens sich nicht zu schade ist, folgende Argumentation aufzubauen: „Und während die Mitarbeiter zum Beispiel privat schon längst selbstverständlich (…) sogenannte Coaching-Apps beispielsweise zum Joggen, Abnehmen und Entspannen nutzten, lautete im Business-Bereich noch weitgehend das Credo: Ein Coaching setzt ein persönliches Treffen von Coach und Coachee voraus.“ Moment einmal: Eine Abnehm-App zu benutzen, hat für mich mit Coaching so viel zu tun wie ein Eisbär mit der Sahara. Und die Abwehr von Online-Settings seitens Business-Coaches vor Corona hat meines Erachtens andere, nämlich Positionierungsgründe.
Seltsame Argumente
Nun gut, Corona war ein Weckruf für die Branche. Da würde ich der Autorin in der Tat zustimmen. Doch die Produktion von 1,5-stündigen Online-Nuggets nun als Meisterleistung zu verkaufen, halte ich nicht nur für übertrieben, sondern auch für verfehlt. Ein gutes didaktisches Konzept ist das noch lange nicht. Und ich sehe diese fantastisch guten Konzepte in der Praxis auch kaum. Quo vadis, betriebliche Weiterbildung? Ich für meinen Teil vermute, dass sich in den Unternehmen in den nächsten Jahren der Kompetenz-Gap noch vertiefen wird. Aber ich bin ja nur ein nörgelnder Baby-Boomer …