KRITIK: Während auf der einen Seite Unternehmen mit Selbstorganisation und Agilität experimentieren, scheinen andere schon wieder auf dem Weg zurück zur Hierarchie zu sein. Oder zu einer Mischform. Wir sind angeblich auf der Schwelle zur Postagilität, erklären Experten, und sie sehen sich durch die Reaktionen in der Corona-Krise bestätigt.
Erst mal zu jenen, die noch fleißig unterwegs sind mit agilen Experimenten. In einem Fallbeispiel eines Unternehmens, das aber nicht genannt wird (Die agile Chefetage), wird im Harvard Business Manager beschrieben, wie der CEO eines Konzerns seinen Vorstand zum agilen Team umformte. Oder besser: Teile des Vorstands. Die Sache klingt kompliziert. Soweit ich das verstanden habe, ging es dem Unternehmen nicht schlecht, aber es war zu befürchten, dass auch ihm kleinere Start-ups zunehmend das Leben schwer machen würden.
Anzeige:
Die Arbeitswelt braucht agile Coachs, um Selbstorganisation, Innovation und neues Rollenverständnis zu implementieren. Die Neuerscheinung „Agiler Coach: Skills und Tools“ liefert für jeden agilen Coach eine beeindruckende Bandbreite an Grundlagen, Methoden und Werkzeugen für die Team- und Mitarbeiterentwicklung im agilen Arbeitsalltag. Zum Buch...
Mehr zusammenarbeiten
Das Motiv für Veränderungen war also die Sorge um die Zukunft des Unternehmens. Und die Lösung hieß: Die bisher getrennten Unternehmensbereiche sollten mehr zusammenarbeiten und gemeinsam Innovationen entwickeln. Ganz viele agile Teams, so die Erkenntnis, würden hierfür nicht reichen, auch die „C-Suite“ (also: CEO, CFO, COO, CIO usw.) sollte die agilen Grundsätze verinnerlichen.
Also veröffentlichte der Vorstand ein eigenes agiles Manifest („Wir ermächtigen unsere Teams … Wir räumen Hindernisse aus dem Weg … Uns geht es nicht um Perfektion … Wir fördern Lernen … Wir verfolgen fortwährende Priorisierung …“) und lässt sich mindestens einmal im Monat von den agilen Teams danach bewerten, wie sich das Top-Team an die Grundsätze hält. Allein das klingt schon mal spannend. Fünf Monate soll es gedauert haben, bis das Führungsteam wie ein agiles Team dachte und handelte.
In der Praxis sah das wohl so aus, dass man ein Projekt startete mit dem Ziel, in einem ausgewählten Kundensegment den Marktanteil erheblich zu vergrößern. Dazu wurde ein Projektteam mit hauptamtlichen Managern, die besten im Konzern, etabliert, die als „Initiative Owners“ (IO; analog zu Product Owners) fungierten und für 25 agile Teams zuständig waren. Die agilen Teams treffen sich jeden Morgen um 8:30 Uhr zu einem Stand-up-Meeting für 15 Minuten, in dem es um die Tagesplanung geht. Um 8:45 treffen sich die Teamleiter in drei Gruppen mit den „IOs“ und suchen nach Lösungen für anstehende Probleme, um 9:00 Uhr stellen die IOs den zuständigen Vorstandsmitgliedern den aktuellen Stand vor. Und diese wiederum treffen sich um 9:15 Uhr mit dem CEO und holen sich dort das OK für Entscheidungen, die nur dieser treffen kann.
Eine völlig neue Meeting-Kultur
Klingt einerseits aufwändig. Andererseits berichten die Autoren, dass die Top-Manager früher 60% ihrer Zeit mit operativen Themen zu tun hatten, jetzt sind es nur noch 25%. Dafür verbringen sie viermal so viel Zeit mit strategischen Fragen. Und noch eine spannende Erkenntnis: Wenn ein Manager heute eine Anweisung erteilt, passiert es ihm immer häufiger, dass die Teams antworten: „Könnte passen, aber wir würden das lieber erst mal testen …“. Oder: „Unsere Daten legen eine andere Vorgehensweise nahe …“. Auch: „Die Idee hatten wir schon, haben sie aber aus folgenden Gründen verworfen …“. Ein Traum für jede Führungskraft, oder?
Warum verbringen dann Top-Manager überhaupt noch Zeit mit operativen Fragen? Weil, so die Aussage, es natürlich noch viele Bereiche gibt, in denen ein agiles Vorgehen nicht so sinnvoll ist. Wo Entscheidungen in der Hierarchie getroffen und zügig umgesetzt werden müssen. Womit wir bei der postagilen Phase angelangt sind.
Was kommt nach agil?
Zwei Berater erklären in einem weiteren Artikel im HBM, was es mit dieser Postagilität auf sich hat (Wann machen wir zu viel agil?). Sie haben ein eigenes „Wasserfallmodell“ entwickelt, das ich mir hier schenke. Die Kernaussage lautet: Jede Organisation braucht Koordination. Die Kunst in der Zukunft wird sein, die richtige Mischung zwischen agiler und hierarchischer Führung zu finden. Ist das Umfeld komplex bis chaotisch, wird man Experimente machen müssen und aus den Ergebnisse lernen, also agil und selbstorganisiert vorgehen. Ist es stabil bis kompliziert, kann man wie bisher top-down vorgehen, planen und anweisen. Und beides wird es in Unternehmen nebeneinander geben, man muss die richtige Mischung finden.
Warum? Tja, hier staune ich wieder. Weil es einigen Mitarbeitern an der nötigen Reife für Selbstorganisation fehlt (die steckt man also in die hierarchischen Bereiche?). Weil es bei Selbstorganisation so aussehen könnte, als geriete der Kunde aus dem Blick (ist das nicht eher in hierarchischen Strukturen so, wo man das tut, was der Chef will, statt auf den Kunden zu hören?). Und weil die Führung das mit der Agilität nicht so ernst nimmt und selbst die letzte Deutungshoheit behalten will (Ich brauche also Hierarchie, weil nun mal die Hierarchen nicht anders können?), und die Transparenz bei den Kennzahlen verloren geht.
Ein Beispiel
Letzteres ist besonders spannend: Ein Unternehmen namens Flaconi, das den Übergang in das postagile Zeitalter schon angetreten hat (soll heißen, das in Teilen wieder zur Hierarchie zurückkehrt), hat eingeführt, dass die Mitarbeiter in täglichen kurzen Updates über die Lage des Unternehmens informiert werden und „so für kurze Entscheidungswege“ sorgt. Braucht man dafür die alte Ordnung? Das täte doch auch in allen agilen Strukturen gut.
Ich denke, es ist arg früh, so etwas wie die Phase der Postagilität einzuläuten. Und das Argument, dass in der Corona-Krise viele Unternehmen zu klaren Anweisungen zurückgekehrt sind, wird in dem Beitrag selbst schon mit Gegenbeispielen widerlegt. Es gibt Unternehmen, die den Handlungsspielraum der dezentralen Einheiten in der Krise deutlich erhöht haben, weil viele Vor-Ort-Lösungen aus der Zentrale niemals erreicht worden wären.