INSPIRATION: Führung und Agilität ist ein spannendes, wenn nicht gar heikles Thema. Wenn die Maxime nämlich Selbstorganisation der Teams heißt, bräuchte es keine formellen Führungskräfte. Aber wie führt sich ein Team?
Seit über 70 Jahren lautet die Parole in der Managementwissenschaft: Schafft den diktatorischen Leader und die Hierarchie ab. Es wird die Demokratisierung in den Unternehmen gefordert. Die potenzielle Abschaffung der Hierarchie beantwortet aber nicht automatisch die Frage, wie man im Unternehmen grundsätzlich die Koordination (neudeutsch: das Alignment), also die „Ausrichtung aller Organisationsmitglieder auf gemeinsame, übergeordnete bzw. überpersönliche Ziele“, organisiert bekommt.
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Die Autoren (Rollen- und Einflussdynamiken in agilen Systemen) erklären, „wie sich Macht- und Entscheidungsfragen in agilen Strukturen auf dem Fundament der Rollentheorie“ verstehen lassen. Diese definiert Rolle als ein Bündel von Verhaltenserwartungen. „Durch Erwartungen wird Berechenbarkeit und Verlässlichkeit in zwischenmenschlichen Interaktionen hergestellt.“ Genau das braucht es für eine gute Koordination. Wer nun genau eine Rolle übernimmt, ist dabei erst einmal zweitrangig. Dass sie übernommen wird, ist entscheidend. Das Shared-Leadership-Konzept ist hier insofern anschlussfähig, als es ohne eine zentrale Anlaufstelle auskommt, aber die Notwendigkeit von Leadership betont.
Die Matrixorganisation
Letztlich kennen wir all das längst unter dem Stichwort „Matrixorganisation“. Es meint eine Mehrfachunterstellung des Einzelnen. Er hat mehrere Chefs mit verschiedenen Funktionen. Altbekannt ist aber auch der Nachteil solcher Organisationsformen: Der Abstimmungs- und der zeitliche Aufwand steigen, Konflikte bleiben nicht aus. Um dies zu minimieren, bringen die Autoren das Rollenkonzept von Belbin ins Spiel. Er unterscheidet drei Rollentypen:
- Handlungsorientierte Rollen: die Macher, Umsetzer, Perfektionisten
- Kommunikationsorientierte Rollen: die Wegbereiter, Teamarbeiter, Integratoren
- Wissensorientierte Rollen: die Spezialisten, Beobachter, Erfinder
Getrieben werden diese Rollenträger von den drei „ewigen“ menschlichen Bedürfnissen (Motiven): Macht, sozialer Anschluss und Leistung. Auf diese Weise könnte man gezielt Teams besetzen und dafür Sorge tragen, dass man keine Monokulturen, sondern einen guten, produktiven Mix hat. Womit andererseits die Erkenntnis verbunden ist, dass wirklich jede Rolle wichtig ist – auch die der „Nörgler“ und „Querulanten“.
Ergibt sich die Rollenverteilung im Team erst im Verlauf, passiv, weil das Team entscheidet, wer sich eignet, spricht man von „role taking“. Übernimmt ein Teammitglied allerdings aktiv eine bestimmte Funktion, formt sich diese sogar nach eigenen Vorstellungen selbst aus, spricht man von „role making“ (oder job crafting). In der Praxis und im Verlauf kommt es hier zu Mischformen. Die Rolle ist ein dynamisches Konstrukt. Und es ist selbstverständlich spannend zu beobachten, wie sich im Verlauf solche Interaktionsdynamiken entwickeln.
Hackordnungen oder Rangdynamiken
Bekannt ist das von Thorleif Schjelderup-Ebbe beschriebene Konzept der Hackordnung, das er dem Tierreich abgeschaut hat. Leider wird es in der Praxis oft statisch und einseitig (unterkomplex) als Klischee missverstanden. Die Weiterentwicklung dieses Konzepts von Raoul Schindler zum rangdynamischen Modell ist daher besser geeignet, Interaktionen in Teams zu beschreiben. Er beschränkt sich auf vier idealtypisch konzipierte Positionen: „Die Macht, die jemandem zukommt, ist eng mit seiner Rolle am Arbeitsplatz verknüpft.“ Das bedeutet, die Rollen können – „je nach Teamkonstellation und situativem Bedarf“ – wechseln:
- Alpha geht durch sein Engagement voran
- Beta bezeichnet die fachliche Autorität im Team
- Gamma bezeichnet die Position all derer, die Alpha nachfolgen und die eigentliche Arbeit leisten
- Omega ist der „Gegenspieler von Alpha, ein Widerspruchsgeist, dessen Wirken für die Kreativität und dynamische Weiterentwicklung des Teams aber bedeutsam ist“ – er ist aber nicht der Loser der küchenpsychologischen Betrachtung.
Durch die Betrachtung als Rolle und nicht als mit der Faust ausgekämpfte und zementierte Hackordnung kann ein Team viel angemessener auf unterschiedliche Lagen reagieren. Die Rollen erlauben auch die Assoziation mit wichtigen Funktionen wie Macher = Exploitation sowie Kreativer = Exploration. An dieser Stelle wird der Mehrwert einer gruppendynamischen Betrachtung offensichtlich: Das Team muss, wenn es sich gut an wechselnde Lagen anpassen möchte, sich regelmäßig treffen und Informationen sowie Ideen austauschen. Mehr noch: Es muss gemeinsam reflektieren, debattieren, koordinieren und kooperieren. Hilfreich dabei ist folglich auch die systematische Einnahme einer Metaperspektive. Solches kennen wir vom Coaching oder der Supervision. Nichts wäre fataler, als den blinden Fleck in der Arbeit und die Tabus im Dunklen zu lassen.
Teamreflexivität
Das Team benötigt also Teamreflexivität. Ein Team, das sich selbst organisiert, muss ständig evaluieren, wie im Team Führung organisiert und praktiziert wird. Und ob diese Führungsweise den jeweiligen situativen Erfordernissen entspricht. Das macht aus Teams selbstorganisierende Teams. Und man ahnt, dass solches ganz schön anspruchsvoll, zumindest ungewohnt sein kann. Es braucht „eine hohe Stress-, Frustrations- und Ambiguitätstoleranz bei den Mitarbeitenden“.
Ach, wie war es doch vordem, mit der Hierarchie so bequem … Da gab es ein „Basta!“ – und die Diskussion war beendet. Heute ist man zum Streiten und zum Konsent verdammt. Die Rolle des Sündenbocks wird zwar geteilt – alle trifft es irgendwann einmal. Doch eine solche Veränderung braucht auch eine neue Kultur. Und da es keinen kulturfreien Raum gibt, braucht es in einer solchen neuen Kultur ebenfalls Spielregeln.
Eine Nebenbemerkung kann ich mir an dieser Stelle nicht verkneifen: Mir ist nun klarer geworden, warum die Matrixorganisation selten oder nur schwierig funktioniert. Die Entscheidung, Kompetenzen auf mehrere Schultern zu verteilen, ist zwar richtig. Aber dies dauerhaft vertikal zu tun, ist offensichtlich suboptimal, weil noch Old Work entstammend. Das skizzierte dynamische Modell der Autoren überwindet diesen Nachteil. Wenn auch der Preis – Kultivierung von Teamreflexivität – kein geringer ist.
Komplexität braucht Hierarchie essenziell als strukturierendes Ordnungsschema, verweisen die Autoren auf Hermann Simon. Aber erfolgreiches Arbeiten benötigt nicht zwingend eine formale Hierarchie – wäre eine Konklusion dieses Beitrags.