27. Juli 2024

Management auf den Punkt gebracht!

Sind sie zu stark, bist du zu schwach!

INSPIRATION: Der Mensch steht bei uns im Mittelpunkt! Das hört man oft. Schaut man genauer hin, stellt man fest, das ist zumeist halbherzig gemeint. Nicht nur sowieso, wie schon Altmeister Oswald Neuberger witzelte: Der Mensch ist Mittel. Punkt! Sondern auch in einer spezielleren Perspektive. Der Mensch wird halbiert: Seine rationale, intelligente Seite schätzen wir. Seine emotionale Seite nicht sonderlich.

Es sei denn, die Perspektive bezieht sich einseitig auf die positive Grundemotion Freude. Dann sind Emotionen erwünscht: Glückliche, begeisterte Mitarbeiterinnen und zufriedene Kunden! Die andere Seite der Emotionalität, damit möchte man weniger konfrontiert werden, das ist unangenehm: Angst, Wut, Trauer … Wie peinlich! Viele können damit nicht gut umgehen. Am besten geht man ihnen aus dem Weg, sperrt sie aus, unterdrückt sie.


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Man muss seine Emotionen im Griff haben!

So kann man auch aktuell wieder lesen (New-Leadership-Kompetenzen): „Jene [Führungskräfte] mit einer ausgeprägten Fähigkeit zur Emotionsregulation beeinflussen aktiv ihre Emotionen. Ihnen gelingt der Umgang mit Ängsten und die Selbstmotivation in herausfordernden Situationen. Führungskräfte, die ihre Emotionen nicht effektiv regulieren können, werden regelmäßig durch ebendiese überwältigt.“ Fisherman’s Friend lassen grüßen: „Sind sie zu stark, bist du zu schwach!“ Reiß‘ dich zusammen, keep smiling!

In der Dienstleistungspsychologie ist man längst weiter: Man unterscheidet zwischen surface acting und deep acting. Surface acting, also die gute Miene zum bösen Spiel, das aufgesetzte Dienstleistungslächeln, lässt die Leute aufgrund der stressenden, emotionalen Dissonanz langfristig in den Burnout laufen. Doch die Vorstellung, dass man seine Emotionen kontrollieren, unterdrücken kann und soll, geht letztlich auf die neuzeitliche Unterscheidung (René Descartes) von der guten Seele und dem animalischen Leib zurück. Von deren negativen Konsequenzen erzählt die Körperpsychotherapie Bände.

Doch die Emotionen sind längst rehabilitiert. Schon Luc Ciompi hat in den 1990er Jahren mit seinem Buch Die emotionalen Grundlagen des Denkens bahnbrechende Erkenntnisse vermittelt. Wenn wir heute von Embodiment sprechen, blicken wir schon auf mehr als 20 Jahre neurowissenschaftliche Forschung zurück. Wir haben inzwischen fundierte und ausgefeilte Konzepte zum „deep acting“, bspw. im Coaching.

Reiß‘ dich zusammen …

Allerdings scheinen diese Erkenntnisse im BWL-Mainstream noch nicht angekommen zu sein. Im Gegenteil: Die Anforderungen an New-Leadership-Kompetenzen, die dort formuliert werden, klingen nach „unkaputtbar“. Man kontrastiere sie einmal mit den Dimensionen der „Dunklen Triade der Persönlichkeit“ (Narzissmus, Machiavellismus, Psychopathie). Es läuft einem kalt den Rücken runter: „Ob Stress positiv oder negativ auf die eigene Gesundheit wirkt, hängt zu einem großen Teil von der persönlichen Einstellung und hierbei insbesondere vom persönlichen Stress Mindset ab,“ lautet die Überzeugung der St. Gallener Autoren. Kein Wort zu Arbeitsgestaltung und Führung, die nach gut belegter Erkenntnis der Arbeitspsychologie ebenfalls über Workability entscheiden.

Und weiter: „Führungskräfte, die ein ausgeprägtes Stress-Mindset in Verbindung mit Boundary Control besitzen, sind der Überzeugung, dass Stress energetisierend wirkt und als Ressource dient, um mehr leisten zu können und dabei über sich hinauszuwachsen. Ferner gelingt ihnen der Wechsel zwischen Arbeit und Privatleben, da sie sich der Kontrolle bewusst sind, selbst darüber zu entscheiden, wann sie sich der Arbeit und wann dem Privatleben widmen.“ Alles klar: „Sind sie zu stark, bist du zu schwach!“

Das letzte, das ultimative Tabu

Einen anderen Tenor schlägt Tim Leberecht (Mut zur Melancholie) an. „Mehr als sechs Millionen Deutsche leiden unter Angstzuständen und Stress am Arbeitsplatz,“ beleuchtet er die dunkle Seite unserer Arbeitswelt. „Zu groß ist die Angst davor, als schwach und unproduktiv angesehen zu werden, zu groß die Furcht um den eigenen Stellenwert im Unternehmen. Am Arbeitsplatz traurig zu sein, gilt als das letzte, das ultimative Tabu.“ Zukunftsfähigkeit hängt für ihn von Sensibilität ab. Organisationen berauben sich also einer fundamentalen Kompetenz, wenn sie immer nur im Feel-Good-Modus operieren. Denn das Geschäft kennt nicht nur Höhen, sondern auch Tiefen, Gewinner sowie Verlierer.

Leberecht rät deshalb zu experimentellen Formaten, in denen man das Gespür und die Stimme wieder finden kann für die ganze emotionale Bandbreite des Lebens. Damit schließt er an alte, bewährte Quellen unserer Kultur an: Wir kennen diese Formen des Umgangs mit schwierigen, außergewöhnlichen Situationen längst. Es sind Rituale. Zeremonien wie Schweigeminuten, Prozessionen, symbolische Handlungen, Auszeiten (Fasten) und experimentelle, performative Aktionen wie Maskenbälle oder Silent Dinner. Solche Aktionen bieten Raum für Emotionen und für deren gute Bearbeitung.

Ganzheitlichkeit wieder neu lernen

Am Beispiel eines Trauermarsches mit anschließender kollektiver Verbrennung nicht verwirklichter Ideen, die die Teilnehmerschaft auf Papierblätter notiert hatte, erläutert der Autor, wie man Melancholie feiern kann. „Melancholie passt hervorragend in unsere Zeit voller einschneidender Veränderungen und Verluste. Indem sie eine Komfortzone schafft für die Trauer um vergangene Zeiten und die schwindende Hoffnung auf bessere, ist Melancholie der perfekte Behälter für die ambivalenten Gefühle unserer Umbruchzeiten.“ Das sollte nicht mit Zynismus verwechselt werden. Zynismus ist destruktiv, Melancholie konstruktiv. Der melancholische Mensch weiß, dass alles menschliche Streben Stückwerk bleibt, das Leben vergänglich ist. Und doch lässt er nicht nach, setzt immer wieder an und freut sich über kleine Dinge. Und ist bescheiden.

Dem Größenwahn unserer Arbeitswelt (höher, schneller, weiter) mag das verzagt vorkommen. Vielleicht haben die Wachstumsprotagonisten nur noch nicht begriffen, dass es kein Back to Normal geben wird? „Vielleicht ist ja die wichtigste berufliche Kompetenz der Zukunft nicht Agilität oder Kreativität, sondern die Gabe, (…) Gnade walten lassen zu können, wo wir sonst dazu neigen, mit uns selbst hart ins Gericht zu gehen.“ – Wie weise!

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