REZENSION: Reinhart Nagel / Rudolf Wimmer – Systemische Strategieentwicklung. Modelle und Instrumente für Berater und Entscheider (6. Aufl.). Schäffer-Poeschel 2014.
Strategie ist ein Dauerthema. Auch wenn die Zeit der großen Entwürfe für einige vorbei scheint, haben sich in den letzten Jahren aber auch interessante neue Ansätze verbreitet (Open Innovation, Crowd Funding). Und schaut man sich neue Geschäftsideen wie Uber, AirBnB und andere an, mag man an der These eines strategischen Stillstands sogar komplett zweifeln. Strategie wird weiter – und vielleicht immer – ein Thema bleiben.
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Ein Buch zum Thema, das in der sechsten Auflage erscheint, darf man getrost einen Klassiker nennen. Es greift bewährte Modelle und Ansätze aus den 60ern bis in die 90er-Jahre auf (Ansoff, Porter, Mintzberg etc.), integriert diese in einen übersichtlichen, siebenstufigen Managementprozess – wobei etliche systemische Denkweisen Eingang finden – und bringt in der Neuauflage weitere Ergänzungen.
Ein systemisches Verständnis von Wandel und Veränderungen
Schon in der Einleitung wird ein systemisches Verständnis von Wandel und Veränderungen dargelegt und von einem technokratischen abgegrenzt. Sodann stellen die Autoren vier verschiedene Ansätze (Spielarten) der Strategieentwicklung dar: Die intuitive, die expertenorientierte, die evolutionäre und die systemische Form der Strategieentwicklung. Sie werden in ihren Grundideen und Vorgehensweisen sowie Vor- und Nachteilen dargestellt. Diese ersten hundert Seiten lassen sich als wichtige und hilfreiche erste Lektion verstehen.
Nun schließt sich ein Kapitel „Der strategische Management-Prozess im Überblick“ an. In diesen 15 Seiten bekommt die Leserschaft einen komprimierten Überblick über die „Strategieschleife“, die auf den folgenden 280 Seiten im Detail ausgearbeitet und mit zahlreichen Modellen und Checklisten angereichert wird. Damit steht die Dramaturgie fest: Analysieren, Erfinden, Entscheiden, Wollen, Umbauen, Beobachten, Verändern.
Diese Dramaturgie hat sich in den über zehn Jahren seit Erscheinen der Erstauflage offenbar bewährt. Dass dieser Managementprozess ein ideeller ist und in der Praxis immer wieder Sprünge vor und zurück möglich sind, erwähnen die Autoren wohl, ohne das Konzept grundsätzlich in Frage zu stellen – was man, mit dem Autopoiesis-Konzept begründet, durchaus tun könnte – oder eine Alternative anzubieten.
Ja, aber …
Insgesamt bekommt die Leserschaft mit diesem Buch einen guten Überblick über das Thema und auch zahlreiche praktische Handreichungen, so dass man es gerne empfehlen mag. Wenn auch etliche konzeptionelle Fragen offen bleiben, die man mit einer 6. Auflage nun nicht unbedingt verbindet.
Denn im Weiteren stellen sich die unterschiedlichen Umfänge der Einzelkapitel (Schritte im Prozess) und die teilweise Subsumierung von Schritten als Teilkapitel als irritierend dar. So umfasst der erste Schritt „Analyse“ 80 Seiten. Der zweite (Erfinden) kommt nur noch auf knappe 60 Seiten. Allerdings werden nun die Schritte „Entscheiden“ (15 Seiten) und „Wollen“ (10 Seiten) als Teilkapitel angefügt. Für den „Umbau“ haben die Autoren – nun wieder als Hauptkapitel eingestuft – 40 Seiten anberaumt. Das „Beobachten“-Kapitel hat 25 Seiten, das zum Thema „Verändern“ 15 Seiten. Sind die einzelnen Schritte nach Meinung der Autoren unterschiedlich wichtig? Oder wurde im ersten Schritt schon so viel erklärt, dass man in der folgenden Darstellung nicht langweilen wollte? Dann verwundert allerdings, dass die im ersten Schritt vorgestellten fünf Perspektiven (Umwelt, Wettbewerb, Kunden, Zukunft, Binnen) sich im Weiteren in der Strukturierung nicht spiegeln.
Auch in der Ausführlichkeit und Tiefe der Darstellungen fallen Unterschiede zwischen den einzelnen Schritten auf. So könnte man meinen, dass man zum Thema Zukunft doch deutlich mehr sagen könnte als zum Thema Status quo. Zudem erwähnen die Autoren, dass man nicht bloß eine, sondern mehrere Zukünfte entwerfen sollte, damit man auf einen Vorrat zugreifen kann (und etwas zu entscheiden hat). Hier hätte man auf viele Anregungen aus dem Innovationsmanagement verweisen können. Und in der selben Buchreihe erschien von geistesverwandten und den Autoren vermutlich bekannten Kollegen ein Buch zum Thema „Systemisches Innovationsmanagement„. Leider findet man keinen Verweis, weder auf dieses Buch, noch auf entsprechende Methoden. Stattdessen nehmen die Klassiker-Modelle des BWL-Mindsets breiten Raum ein. Kreative, und man muss es bedauernd sagen, dezidiert systemische Methoden sind unterrepräsentiert. Nichts gegen Porters U-Kurve oder den Portfolio-Ansatz, aber ein gehöriger Schuss Futur-II-Ansatz hätte dem Kapitel gut getan.
Einige Stolpersteine
Ähnliches wäre zu weiteren Kapiteln zu sagen. Wiederum: Nichts gegen Ausführungen zum Entscheidungsproblem nach Luhmann. Aber warum fehlt so etwas Einfaches und Anregendes wie das Tetralemma im Kapitel? Warum fehlen Hinweise zum Malen und Zeichnen von Visionen im Kapitel „Wollen“?
Der erste Teil des Kapitels zum strategischen Umbau ist in weiten Teilen eine offenbar nur geringfügige Überarbeitung eines entsprechenden Kapitels vom Mit-Autor Nagel aus dem hervorragenden Lehrbuch des Mitherausgebers Wimmer „Praktische Organisationswissenschaft“. Das macht diesen Part nicht weniger wertvoll, doch bleiben die sich anschließenden Ausführungen zum Thema Veränderungen doch eher blass. Hier hätte man so viel über Organisationskultur, psychologische Verträge, Beratungsarchitektur und vieles mehr anführen können.
Und neben den zweifellos hilfreichen Darlegungen zum Thema Balanced Scorecard (BSC) wären ebensolche zum Thema „Sounding Board“ oder Corporate Blog angemessen gewesen. Es findet sich bloß eine Abbildung, die nicht groß erklärt wird. Den Abschluss des Buchs bildet eine längere – Navigator genannte – Checkliste.
So mag man resümieren, die Leserschaft bekommt mit diesem Buch eine gehörige Portion Wissen sowie Modelle und Checklisten an die Hand und mit der Strategieschleife zudem ein hilfreiches Vorgehensmodell. Allerdings überwiegt der BWL-Fokus doch klar, das genuin systemische Know-how kommt (leider) zu kurz. Hier wünscht sich der Rezensent in der Zukunft – es wird doch bestimmt noch eine siebte oder weitere Auflagen geben – eine Gewichtsverschiebung. Ebenfalls sollten neuere Konzepte wie Open Innovation, Mass Customization, Crowd Sourcing und Crowd Funding, aber auch Design Thinking ihren gebührenden Platz erhalten. Dafür könnte ersatzlos auf das schräge und im Übrigen wissenschaftlich widerlegte „Boiling Frog“-Beispiel verzichtet werden.