INSPIRATION: Wenn Agilität Teamarbeit in Selbstorganisation bedeutet, fragt sich so manche Führungskraft, was dann noch ihr Job sein soll. Wird das Middle Management überflüssig? Das fragen sich gelegentlich auch deren Chefs …
So scheinen dunkle Wolken am Horizont aufzuziehen. Doch bevor es kesselt und kachelt, ist es ratsam, sich die Sache einmal genauer anzuschauen. Denn in den Panikmodus zu verfallen, ist ja nie ratsam. Die Autorin (Gruppendynamische Kompetenzen für Führungskräfte von agilen Teams) trifft daher zunächst eine wichtige Unterscheidung: Die zwischen autonomer und autogener Selbstorganisation. Während autogenes Handeln spontanes, ungeplantes Handeln meint, wird autonomes Handeln selbstbestimmt und bewusst organisiert. Dieser Unterschied macht einen Unterschied, um mit Gregory Bateson zu sprechen.
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Ein Missverständnis
„Autonome Selbstorganisation bedeutet nicht die grenzenlose Freiheit des Einzelnen, sondern das (teil)autonome Handeln der Gruppe innerhalb definierter Grenzen hinsichtlich bestimmter Dimensionen gegenüber der Organisation.“ Wer die Einführung von Gruppenarbeit in Unternehmen in den 1990ern miterlebt hat, wird sich erinnern, dass diese Definition auch damals schon gegolten hat. Das Individuum ist im Unternehmen nie völlig frei. Während es klassischerweise direkt von einer Führungskraft geführt wird, wird es in Gruppenarbeit von der Gruppe geführt, die wiederum von einer Führungskraft geführt wird. Daher der Begriff: Teil-Autonomie.
Gleiches gilt auch für das agile Arbeiten. Die eben noch in Panik verfallene Führungskraft, darf sich also erst einmal entspannen. Aber sie sollte aufmerksam bleiben. Sie ist und wird nicht per se überflüssig. Aber die Gruppe läuft auch nicht per se rund, nur weil sie nach Scrum-Prinzipien arbeitet. „Es braucht daher Führungskräfte, welche die Fähigkeit haben, diese Selbstorganisationsdynamik zu begleiten, jene Rahmenbedingungen zu schaffen innerhalb derer sich Selbstorganisation entwickeln kann.“
Eine alte Erkenntnis
Ich will jetzt nicht behaupten, Kurt Lewin, der Erfinder der Sozialpsychologie, hätte das in den 1940ern schon vorausgesehen. Wenn man sich aber sein Führungsstilexperiment noch einmal vergegenwärtigt, dann hat er den autoritären Führungsstil (den er aus Nazi-Deutschland kannte) gegen den Laissez-faire-Stil (die Führungskraft lässt das Team allein wurschteln) und den demokratischen Stil (Führungskraft und Team diskutieren gemeinsam das beste Vorgehen) getestet. Mit den bekannten Ergebnissen: Autoritärer und Laissez-faire-Führungsstil waren weniger effizient als der demokratische Stil. Wenn man das auf die heutige Herausforderung durch Agilität anwendet, kommt man zu keinem anderen Ergebnis: Führungskräfte müssen der Versuchung, ins Team hineinzuregieren, weil „Die’s nicht packen“, widerstehen. Ebenso dürfen sie sich nicht beleidigt, weil „Die’s nicht packen“, abwenden. Es braucht ein gutes Miteinander. Und wie das aussehen soll, ist unter neuen – agilen – Vorzeichen auf jeden Fall zu klären.
Rahmensetzung
Erste und wichtige Aufgabe der Führungskräfte wäre deshalb nach Meinung der Autorin die Definition des Rahmens (Autonomiegrad): Was genau erwartet man vom Team – und was nicht? Völlig falsch wäre, Körbe von Arbeit über dem Team auszuschütten. Vielleicht sogar mit der bissigen Bemerkung: „Ihr wollt die Freiheit? Da habt Ihr hier die Arbeit!“ Mit diesem Push-Prinzip fährt man die Teams nur sauer. Dass die Gefahr nicht aus der Luft gegriffen ist, scheinen mir die Ergebnisse des diesjährigen New-Work-Barometers (Wasch‘ mir den Pelz, aber) leider zu spiegeln: Die Unternehmen gewähren großzügig „Selbstorganisation“, knausern aber bei „Einflussnahme/Macht“ (z.B.: Homeofffice).
Schon im Lean-Management hat man die Optik um 180 Grad gedreht: Pull-Prinzip. Die Teams holen sich die Arbeit. Und zwar in der Menge und dem Tempo, wie sie es gut (!) verarbeiten können. „Führungskräfte haben hier die Aufgabe eine entsprechende Vertrauenskultur aufzubauen damit Themen der Überforderung und Entgrenzung der Arbeit besprochen werden können,“ so die Autorin. Und dann gibt es noch zwei weitere Empowerment-Dimensionen, bei denen die Führungskräfte gefordert sind: Kompetenzen und Sinn (Mit Empowerment zu New Work).
Widerstände
Es bleibt also genug zu tun für Führungskräfte! Mit nur einem Zylinder fährt es sich nicht so gut. Die „Empowerment-Maschine“ hat vier Zylinder. Wie gesagt: eigentlich wissen wir das alles schon seit den 1990er-Jahren … Auch damals gab es Führungskräfte, die sich mit der Teil-Autonomie der Führungskräfte nicht anfreunden wollten. Weil sie aus einer autoritären Kultur stammten, weil sie den (falschen) Eindruck hatten, ihre Karriere und ihre Meriten würden abgewertet. Weil sie Angst hatten, Privilegien zu verlieren. Und es gab die anderen, die sich schlicht hilflos fühlten, die keine Vorstellung davon hatten, wie Führung anders funktionieren sollte, die vielleicht sogar ins Gegenteil verfielen, in einen Laissez-faire-Stil.
Zum Glück wurde seinerzeit der transformationale Führungsstil populär. Weil er eben perfekt zur neuen Lage passte: Leadership ist gefragt, Management reicht nicht mehr. Die Führungskraft versteht sich als Vorbild, sie begeistert die Mitarbeiter durch eine Vision, sie motiviert und kümmert sich um das Team und um einzelne Teammitglieder. Methoden und Tools mögen hilfreich sein, aber es braucht mehr, um eine gute Führungskraft zu sein: Man muss auch mit der Gruppendynamik umgehen können. So drückt es auch Autorin Schermann aus: „Führungskräfte müssen diese Ambivalenzen aushalten und managen können, Sicherheit und klare Rahmenbedingungen schaffen und brauchen vermehrt Reflexionsfähigkeit und Prozesskompetenz.“
Was brauchen agile Führungskräfte?
Man macht es sich viel zu leicht, wenn man heute ein agiles Mindset propagiert. Beispielsweise: Commitment, Focus, Openness, Courage und Respect. Solches fällt doch nicht vom Himmel. Das sind Output-Variablen. Genauso wie Psychologische Sicherheit (Keine Eintagsfliege). Die kann man doch nicht proklamieren: „Ab morgen herrscht hier psychologische Sicherheit!“ Die entsteht oder nicht. Man muss etwas dafür tun, wenn sie entstehen soll. Wenn Führungskräfte glauben, sie könnten so autoritär wie früher weiter machen, man bräuchte halt nur ein anderes Wording heutzutage, geht der Schuss nach hinten los: Die Mitarbeitenden glauben ihnen nicht, vertrauen sich gegenseitig nicht. Es wird ein Gewürge. Vermutlich heißt es dann später: Die Mitarbeiter waren noch nicht reif dafür.
Wir wissen nicht, ob die Mitarbeitenden reif genug waren. Die Führungskräfte waren es vermutlich nicht. Und die Kultur passte auch nicht zu Agilität. Wer Selbstorganisation möchte, muss auch mit Fehlern leben können. Der muss das Team auch ermächtigen, seinen Weg zu gehen. Das heißt, das Team als Ganzes ist in der Verantwortung, nicht Einzelne. „Dabei geht es vor allem darum, den Blick weg von den einzelnen Personen und hin zu den Dynamiken der gesamten Gruppe zu lenken.“ Auch der Kulturwandel fällt nicht vom Himmel. Er braucht Zeit, Geduld und eine Vision.
Steuerung agiler Teams
Agile Teams steuern sich durch Selbstorganisation (Selbstführung von Teams). Sie werden aber auch von außen gesteuert. Durch den Rahmen ihrer Teil-Autonomie. Systemisch betrachtet sprechen wir hier von Kontextsteuerung. Was macht den Rahmen aus? Wann ist er zu eng? Wann zu weit? Was brauchen die Teams, um gut arbeiten zu können? Ebenfalls in den 1990er-Jahren bei der Einführung von Gruppenarbeit hat man schnell begriffen, dass diese nur funktionieren kann, wenn man auch flexible Arbeitszeitmodelle anbietet und Entgeltsysteme, die nicht den Einzelnen, sondern das Team incentivieren. Warum soll das heute nicht mehr gelten? Warum soll ein Homeoffice-Verbot hilfreich sein? Damit mache ich den Rahmen enger. Welche Konsequenzen wird das haben? Die gruppendynamische Überzeugung lautet: Es ist wichtig, „allen Beteiligten das Prozessgeschehen bewusst zu machen und Reflexion zu ermöglichen“.
Die Einführung agiler Arbeitsweisen endet nicht mit der Umsetzung eines Frameworks wie Scrum. Es bedeutet eine massive Veränderung der Organisationskultur. Nicht nur für die Teams, auch für Führungskräfte bedeutet das eine anspruchsvolle Lernreise. Auch in den 1990er-Jahren hatte man erkannt, dass die neue Organisationsform Gruppenarbeit kein Selbstläufer ist. Dass sie neue Kompetenzen, insbesondere soziale (bspw.: Konfliktmanagement), erfordert. Daher wurden vermehrt Arbeits- und Organisationspsychologen als externe Berater engagiert oder gleich eingestellt.
Ich sehe keinen Unterschied zur heutigen Situation. Wenn auch heute die Beschäftigungsrate von Arbeits- und Organisationspsychologen allgemein höher sein dürfte. Einen Unterschied beim Thema Führung sehe ich allerdings schon: Die Aufsplittung der Führungsrolle in Product Owner und Agile Coach ist ein Fortschritt, wenn die Rollen klar definiert sind. Rollenbewusstsein und -klärung sind nun ebenfalls solche gruppendynamischen Kompetenzen, ohne die weder das Team noch die Führungskraft erfolgreich arbeiten können.
Eines erscheint allerdings klar: Pauschal Middle Manager (Zwischen den Stühlen) abzuschaffen, ist definitiv zu kurz gedacht.