2. November 2024

Management auf den Punkt gebracht!

Chaos als sinnvolle Form von Ordnung

REZENSION: Guido Strunk / Günter Schiepek – Systemische Psychologie. Spektrum 2006.

Befragt man das Publikum, was es sich unter Systemen vorstellt, erhält man ein paradoxes Bild: Letztlich stehen sich Ordnung und Struktur auf der einen und Unordnung und Unvorhersagbarkeit gegenüber. Wie lässt sich das auflösen? Dieses Buch durchzieht die Vorstellung, dass Chaos aus Ordnung hervorgeht, sogar eine höchst sinnvolle Form von Ordnung darstellt.

Dies nachzuvollziehen und für sich fruchtbar zu machen, verlangt allerdings doch einiges an ehrlichem Interesse und stellt mitunter die Geduld auch auf die Probe. Der Rezensent gibt zu, sich selbst auch über Monate und in mehreren Anläufen durch dieses Buch durchgearbeitet zu haben. Dieses mehrmalige Ansetzen und den Faden wieder Aufgreifen war aber hilfreich und fürs bessere Verständnis förderlich – soll es nicht bei einem oberflächlichen Verständnis von „systemisch“ bleiben. Dass der Markt von oberflächlichen Verständnis überschwemmt ist, hat man ja schon häufiger hören müssen. Mit dieser Lektüre bietet sich folglich die Chance, sein Wissen und Verständnis zu vertiefen und antwortfähiger zu werden.

Gliederung

Das Buch gliedert sich in drei große Blöcke: Im ersten Teil geht es um die systemtheoretischen Grundlagen. Der zweite Teil behandelt die systemwissenschaftliche Modellbildung. Und der dritte Teil umreißt das Feld einer systemtheoretischen Psychologie. Wenn man das Feld von hinten aufrollt, kann man leicht an etlichen Erkenntnissen der Psychologie zu den Themen Wahrnehmung, Kognition, motorische Prozesse, Lernen, soziale Systeme oder Pathogenese anknüpfen, die anschaulich und eindrücklich belegen, dass Menschen keine berechenbaren Automaten sind, dass das Ganze mehr als die Summe von Teilen ist. Für den Psychologen ist dies nicht unbedingt neu. Systemtheoretisch geschult kann man gut an der Gestaltpsychologie, aber auch an der Entwicklungspsychologie Piagets anknüpfen. Allerdings dominiert die akademische Psychologie immer noch das behavioristische Paradigma, auch wenn es sich inzwischen zum biopsychosozialen Modell weiterentwickelt haben mag. Mit diesem Paradigma bricht die Theorie nichtlinearer dynamischer Systeme, wie sie von den beiden Autoren vertreten wird. Sie kritisiert weite Teile der akademischen Psychologie als mechanistisch und naiv. Das ist starker Tobak.

Kritisiert wird am Behaviorismus ein idealisierender Reduktionismus: Die Vorstellung, man könne die Welt nach dem Prinzip der isolierenden Variation (ceteris paribus) zerlegen und die (atomisierten) Teile anschließend wieder zusammen fügen – als Summe dieser Teile. Solches mechanistische, deterministische Denken durchzieht die neuzeitliche Wissenschaft seit Newton, Hobbes, Descartes. Doch seit ungefähr 70 Jahren, seit den Entdeckungen Prigogines, Hakens, Eigens und anderer, ist diese Weltsicht grundsätzlich in Frage gestellt. Strunk und Schiepek zeichnen die Entwicklung anschaulich nach. Im 16. Jahrhundert begriff man Menschen und Tiere als Automaten, als fleischliche Maschinen. Erst der Kybernetik in der Mitte des 20. Jahrhunderts gelingt es mittels Homöostaseprinzip, die dummen Automaten kontextsensibel zu machen. Über Regelkreismodelle sind Lebewesen fähig, sich an Umweltbedingungen anzupassen. Doch können diese nicht erklären, wie Menschen es schaffen, Neues zu lernen, wie sie es schaffen können, sozusagen die Regelkreise zu modifizieren und umzubauen.

Ein neues Weltbild nichtlinearer dynamischer Systeme

An diesem Punkt führen die Autoren die Leserschaft tief in die Entwicklung der letzten Jahrzehnte ein. Da gilt es, einiges an Begriffen zu verstehen (Attraktor, Bifurkation, Emergenz, Fraktale, Schmetterlingseffekt, Chaos, Selbstorganisation, Ordnungs-Ordnungs-Übergänge etc.) und nachzuvollziehen, dass es neben dem Fixpunkt eines eingestellten Heizungswertes im Homöostasemodell noch weitere Ordnungsparameter wie Grenzzyklus, Torus oder Chaos gibt. Unter der Hand entsteht so ein neues Weltbild nichtlinearer dynamischer Systeme. Um einmal einen Vergleich zu wagen: Die Welt nicht als planer Billardtisch, sondern als Treibsand, der plötzlich zur Achterbahn wird etc.

Im folgenden Hauptteil führen die Autoren in die systemtheoretische Modellbildung und in entsprechende Methoden ein. Das ist einerseits interessant und erhellend, andererseits wird es dabei zum Teil auch mathematisch anspruchsvoll. Wechseln wir daher flugs etliche Seiten überspringend wieder an den Schluss: Was bedeutet diese Theoriemodellierung nun für die Psychologie? Zunächst eine Abkehr vom Maschinenmodell und eine Öffnung für Theorieströmungen, die teilweise altbekannt sind (wie die Gestaltpsychologie), andererseits die Adaption eines neuen Methodenrepertoires, um Systemdynamiken aufdecken zu können. Die Autoren illustrieren dies bspw. mittels Zeitreihenmessungen in der Psychotherapie.

Maxime systemischen Denkens

Zum Schluss tauchen dann zahlreiche Maxime systemischen Denkens für die Praxis auf, die gar manchem bekannt vorkommen sollten: Suche die Druckpunkte (Kontrollparameter) des Systems; produziere Unterschiede, die Unterschiede machen; erweitere die Perspektiven, nutze Ressourcen; destabilisiere – und bette neues Denken, Fühlen, Verhalten gut ein, stabilisiere es und schütze es vor dem Rückfall in alte Muster …

Nach dieser längeren Reise durch die unendlichen Weiten des systemtheoretischen Universums, kommt einem dies recht vertraut vor. Mehr noch: viel schlüssiger und passender als zuvor. Um ein Diktum von Jürgen Kriz, der diesem theoretischen Ansatz mehr als nahesteht, und dessen Coaching-Buchlektüre sich hier mühelos anschließen mag, aufzugreifen und abzuwandeln: „Aufgabe des Coaches ist es nicht, Systeme planlos zu verstören, sondern intelligent solche Umgebungsbedingungen zu modellieren, welche sinnvolle Ordnungs-Ordnungs-Übergänge ermöglichen.“ Solches liest sich möglicherweise leichter als es in der Praxis dann umzusetzen ist. Die Lektüre dieses „Einführungsbuchs“, das eigentlich ein Grundlagenbuch ist, mag dabei helfen, sich dabei besser zu orientieren. Es ist wahrlich keine leichte Kost, aber davon gibt es ja eh zu viel.

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