19. Mai 2025

Management auf den Punkt gebracht!

Dem Stress auf der Spur

INSPIRATION: Ein neues Coaching-Programm will es Klienten ermöglichen, positiver mit Stress umzugehen. Sie sollen Job-Crafting nutzen, um proaktiv entweder die Anforderungen ihres Jobs zu reduzieren oder ihre Ressourcen stärker zu nutzen.

Oder beides. Konzeptionell setzten die Autor:innen (The crafting for stress management coaching (CSMC) program) auf die Job-Demands-Resources-Theorie (JD-R) von Bakker und Demerouti. Seit zirka 20 Jahren erfreut sich diese Theorie wachsender Aufmerksamkeit, weil sie Stress nicht bloß negativ versteht, sondern seine aktivierende Funktion würdigt. Und zudem zeigt, dass Belastung und Beanspruchung steuerbar sind.


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Und zwar nicht so platt wie das populär in Unternehmen gerne behauptet wird mit dummen Sprüchen wie „An apple a day keeps the doctor away“. Oder in Resilienzpredigten angeblich begnadeter Trainer, die sich aber bloß an das Individuum richten – und dieses dann oft genug hilflos und beschämt zurücklassen. Sondern ganzheitlich: Durch aktive Arbeitsgestaltung zur Reduktion von Belastung und Beanspruchung, durch unterstützende Führung, durch Teamkooperation sowie durch persönliche Ressourcenaktivierung. Was den letzten Aspekt betrifft, greifen die Autorinnen auf die rational-emotive Verhaltenstherapie zurück. Hier geht es um die Entwicklung positiver Emotionen und Kognitionen.

Visualisierung von „Stress“

Zentral ist die Annahme der JD-R-Theorie, dass Ressourcen die Beziehung zwischen Anforderungen und negativen Folgen wie Burnout abfedern können. Und dann wäre es doch hilfreich, so die Autor:innen, wenn man dem Klienten den Verlauf seiner Stresszustände (positive wie negative; Di- und Eustress) über die Zeit visualisieren würde. Dadurch bekäme er unmittelbares Feedback und könnte seine Aktivitäten und Anstrengungen, besser mit seiner Situation umzugehen, zeitnah verfolgen.

Dazu ist Job-Crafting der Hebel (Goldschürfer fördern). Der Klient wird „vom Opfer zum Täter“, verändert aktiv seine Arbeitssituation und erlebt Selbstwirksamkeit. Dadurch erhöht sich sein Arbeitsengagement, was wiederum positiv auf die Selbstwirksamkeit wirkt. Eine Aufwärtsspirale.

Das Coaching-Programm

Das auf dieser Basis entwickelte Coaching-Programm versteht sich als ein kurzfristiges Programm. Es besteht aus fünf anderthalbstündigen Sitzungen und einer Pause von bis zu zwei Wochen zwischen den einzelnen Sitzungen. Die Programmentwickler (The crafting for stress management coaching (CSMC) program) gingen dabei methodisch innovativ vor.

1. Sitzung

Den Start macht eine Einführung in das Konzept (Psychoedukation) und eine persönliche Zielformulierung für das Coaching. Am Ende wird ein täglich auszufüllender Fragebogen ausgeteilt. Damit sollen in den nächsten 14 Tagen die Arbeitsanforderungen, die Ressourcen sowie die positiven wie negativen Stresslevel erhoben werden. Das bedeutet für den Klienten einen Zeitaufwand pro Tag von fünf bis zehn Minuten.

2. Sitzung

In der zweiten Sitzung werden die gesammelten Daten visualisiert und gemeinsam diskutiert. Das dient dazu, die eigene Zielformulierung zu überprüfen oder anzupassen. Auch aus dieser Sitzung geht die Klientin wieder mit einer Hausaufgabe heraus. Es gilt, eine „Zielautobahn“, also die Visualisierung der Zielerreichung, mit Meilensteinen in einer Landschaft zu visualisieren (malen/zeichnen). Damit werden kognitive wie emotionale Prozesse gebahnt.

3. Sitzung

In der dritten Sitzung sollen nun die Crafting-Fähigkeiten des Klienten mobilisiert werden. Zu diesem Zweck wird der Fragebogen aus der ersten Sitzung erweitert zu einem Tagebuch. Es gilt nun insbesondere, die Erfahrungen mit den Crafting-Aktivitäten zu notieren – und damit auch zu reflektieren. Was funktioniert gut? Was könnte man ändern oder noch ausprobieren? So soll sich – natürlich auch durch Reflexion mit dem Coach – die „Landkarte“ der Klientin erweitern. Das tägliche Erfassen der Lage ist wichtig, um nachträgliche Wahrnehmungsverzerrungen zu minimieren.

4. Sitzung

In der vierten Sitzung geht es darum, die Verbesserungsarbeit zu verfeinern. Neue Erfahrungen und neues Wissen werden in die Ziel-Highway-Map eingearbeitet. Auch hier wieder eine Hausaufgabe: Der Klient soll einen Aktionsplan erstellen, der ihm als Sicherheitsnetz dient. Das soll helfen, die Job-Crafting-Gewohnheiten aufrechtzuerhalten und auch nach Beendigung des Coaching-Prozesses weiterführen zu können.

5. Sitzung

In der letzten, fünften Sitzung wird dieser Plan dann diskutiert, angepasst und vor allem: gewürdigt. Das steigert das Selbstwirksamkeitserleben der Klientin. Diese wird auch eingeladen, eigene Schlussfolgerungen zu ziehen und ihre Lernerfahrungen unabhängig von der theoretischen Grundlage zu formulieren.

Digitale Unterstützung

Insgesamt soll der Coach im Prozess flexibel auf die Bedürfnisse des Klienten reagieren. Das Coaching-Programm soll ja keinen Stress machen … Mein Eindruck: Das Konzept ist gediegen.

Die Autorinnen zeigen nun auf, wie man den ganzen Prozess mittels digitaler Technologie noch besser gestalten und damit aufwerten kann. Und zwar mittels Ecological Momentary Assessment (EMA). Im Prinzip haben sie das schon begonnen, indem sie den täglichen Fragebogen implementiert haben. Doch das war Paper & Pencil. Der nächste Schritt lautet dann konsequenterweise: Einbindung von Smartphones, mobile Computer, Smartwatches.

Über diese Geräte, die viele besitzen und mit sich führen, können zu vorab ausgewählten strategischen Zeitpunkten Aufforderungen zum Feedback versendet werden. Damit werden Schwankungen der Wahrnehmungen im Laufe der Zeit mit hoher Auflösung aufgezeichnet und eine detaillierte Interpretation des Erlebens der Klienten ermöglicht. Es könnte im Einzelfall relevant sein, Schwankungen im Laufe des Tages zu betrachten oder bestimmte Zeiten an bestimmten Tagen. So könnte man ein engmaschiges Netz an Datenerhebungen spannen.

Ein weiterer Schritt würde sich über ein Echtzeit-Monitoring und sogenannte Just-In-Time-Adaptive-Interventions (JITAI) eröffnen. Solche Anwendungen dienen nicht nur zum Monitoring oder der zeitnahen Intervention. Sie könnten auch – darauf verweist „Adaptive“ – selbst lernen. Mittels eines maschinellen Lernalgorithmus, der seit der ersten Sitzung aktiv ist, würde die Klientin auch noch über das Coaching-Programm hinaus unterstützt werden können. Und zwar maßgeschneidert, oder um es wissenschaftlich auszudrücken: ideografisch.

All das ist keine Zukunftsmusik, sondern schon längst entwickelt. Insbesondere im klinischen Bereich konnten auf diese Weise schon erstaunliche Ergebnisse erzielt werden. Man denke nur an die Therapie von Essstörungen oder Adipositas etc.

Risiken und Nebenwirkungen

Natürlich ist bei einem solchen Vorgehen, bei dem im höchsten Maße individualisierte, persönliche Daten erhoben werden, der Datenschutz von höchster Priorität. Vielleicht wird mancher Klient auch nicht bereit sein, hier mitzumachen. Alles in allem vergrößert sich mit diesem Vorgehen der Aufwand auch nicht unbeträchtlich.

Es stellt sich zudem die Frage, ob es bei einem solch automatisierten Vorgehen dann überhaupt noch einen Coach braucht. Oder zumindest sollte man sich über den Grad der Arbeitsteilung Gedanken machen. „JITAI kann zwischen verschiedenen Gestaltungstechniken und relevanten Arbeitsbedingungen unterscheiden, aber die gestellten Fragen variieren nicht auf einer tieferen Ebene. Hierfür wird der Coach benötigt,“ räumen die Autor:innen ein. Dieses Argument haben wir schon anderweitig vernommen (KI: Denken lassen oder selbst denken?).

Etliche Fragen, die sich zu diesem Vorgehen stellen, dürften noch offen und zu diskutieren sein. Das ist normal. Absolut spannend ist allerdings der methodische Ansatz des Prozessmanagements. Soeben haben wir erst einen ähnlichen Ansatz als synergetisches Prozessmanagement gewürdigt (Erkennen, wie man „tickt“). Das ist nicht deckungsgleich, weil die Synergetiker in meinen Augen noch radikaler die ideografische Modellierung betreiben. Aber es gibt viele Ähnlichkeiten. Vielleicht tauschen sich die Forscher:innen demnächst einmal aus? Und vielleicht bewegen sich die ideografischen (Einzelfall; bottom-up) und die nomothetischen (Durchschnitt; top-down) Denkschulen mehr aufeinander zu, was ich mir schon länger wünsche (Teamarbeit mit Biss)? Auf jeden Fall bleibt es spannend.

KI ist nicht KI

Eine letzte Bemerkung: Ist das nicht spannend an dieser Stelle einmal differenzierend den KI-Einsatz zu diskutieren? Oder sollten wir nicht präziser sagen: Machine Learning?

  • Im Beitrag der Autor:innen haben wir eine wirklich ideografische Systemmodellierung. Die Maschine arbeitet nur mit den Daten einer einzelnen Person und durchforstet diese nach Mustern.
  • Im anderen, populären Fall spreche ich mit einem System, das aus dem weiten Ozean von Wikipedia und/oder vielleicht tausenden von irgendwelchen, sogenannten Coaches gebastelten Websites und Hast-Du-Nicht-Gesehen-Quellen – keiner weiß das so genau – „Weisheit“ extrahiert (Coaching ohne Coaches).

Letztere „Weisheiten“ mögen viele, die heute ungeniert ChatGPT als Coach nutzen, zufrieden stellen. Das mag sein. Doch wir sehen im Beitrag der Autoren eben einen viel spezifischeren Einsatz von KI. Für mich ist das die viel überzeugendere Antwort.

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Thomas Webers

Dipl.-Psych., Dipl.-Theol., Fachpsychologe ABO-Psychologie (DGPs/BDP), Lehrbeauftragter der Hochschule Fresenius (Köln), Business-Coach, Publizist

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