KRITIK: „Das Assessment Center gehört zu den Grundpfeilern der modernen Personalauswahl.“ Da ist es ja nur zu selbstverständlich, dass man die neuen Medien nutzt, um das Verfahren auch „remote“ durchzuführen. Das hat sogar etliche Vorteile gegenüber dem klassischen Gruppenverfahren, verraten die Autoren im Personalmagazin (Zuhause die Leistung zeigen).
Zunächst einmal: Das typische AC besteht aus Rollenspielen, Interviews, Gruppendiskussionen, Fallstudien und psychologischen Testverfahren. Das lässt sich alles auch per Video-Veranstaltung abbilden, wobei wir inzwischen wissen, dass „führerlose Gruppendiskussionen ohnehin diagnostisch geringe Mehrwerte bieten“. Wer jetzt überrascht ist, dem wird erklärt, dass im „normalen“ AC das Ergebnis stark von der Zusammensetzung der Gruppe abhängt. Ebenso von der Wahrnehmung der Beobachter, die ja immer mit im Raum sitzen und das Verhalten beeinflussen können. Ein digitales Einzel-AC schaltet dank der möglichen Standardisierung viele Einflussgrößen aus und verbessert somit die diagnostische Qualität.
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Die weiteren Vorteile
Längere Verfahren leiden darunter, dass die einzelnen Messverfahren sich gegenseitig beeinflussen, daher ist eine Verkürzung methodisch sinnvoll. Hinzu kommt, dass die administrativen Aufwendungen deutlich geringer sind, die Teilnehmer müssen nicht anreisen, untergebracht und versorgt werden, ebensowenig die Beobachter. Außerdem bewegen sich die Teilnehmer im vertrauten Umfeld, nämlich zu Hause. Das mindert das Lampenfieber. Weil alles automatisiert werden kann, ist die Gefahr von Übertragungsfehlern geringer (gemeint ist, wenn die Beobachter sich Notizen auf dem Papier machen und ihre „Noten“ bekanntgeben, diese dann in Tabellen geschrieben werden, können immer wieder Fehler passieren). Und schließlich haben sich zum Beispiel telefonbasierte Rollenspiele längst durchgesetzt, weil viele Kandidaten, die etwa im Ausland sitzen, sich ohnehin nur schwerlich zu Gruppen zusammenholen lassen.
Klingt fast so, als könne man auf die typischen Assessment-Center in Zukunft getrost verzichten. Wobei darauf hingewiesen wird, dass man Präsenz- und Remote-Verfahren nicht mischen, sondern sich auf eine Methode festlegen sollte. Von Aufzeichnungen des Verhaltens wird hier auch abgeraten, vor allem aus datenschutzrechtlichen Gründen.
Merkwürdige, neue Argumente
Was ich daran höchst merkwürdig finde: Dass die Gruppe und auch die Beoachter Verhalten beeinflussen, wurde bisher nicht unbedingt als Nachteil angesehen. Auch im richtigen Leben findet Verhalten nicht im luftleeren Raum statt. Und schon gar nicht zu Hause, wo sich die Menschen sicher fühlen. Diese Idee, möglichst viele Einflussgrößen auszuschalten und damit das „wahre“ Potenzial zu entdecken, hält sich hartnäckig. Als ob es aussagekräftiger ist, wenn jemand vor der Kamera steht und präsentiert als vor einer Gruppe kritischer Zuhörer. Wo es bisher als diagnostisch höchst interessant galt zu beobachten, wie jemand auf unerwartete Einwände anderer reagiert oder wie er sich im Raum bewegt samt Mimik und Gestik, gilt das also plötzlich alles als Störgröße, die dank digitaler Technik ausgeschaltet wird.
Da macht man also aus der Not eine Tugend und erklärt uns jetzt, wie viel besser es ist, Kandidaten allein vor der Kamera Aufgaben bearbeiten zu lassen – wobei es Einzel-Assessments ja schon lange vor der Digitalisierung gab.
Aus der Not eine Tugend gemacht?
Irgendeinen diagnostischen Wert werden beide Versionen des Assessment-Centers haben, dass dieser bei der „Remote“-Version größer ist, wage ich zu bezweifeln. Aber zumindest lässt man hier keine Kandidaten wie im Boxring gegeneinander antreten. Und prüft so ihre „Kooperationsfähigkeit“ – das allein wäre dann in der Tat ein Grund, sich von den Gruppenverfahren zu verabschieden. Wobei, jede Wette, auch schon digitale ACs durchgeführt werden, wo man die Bewerber in Kleingruppen aufeinander loslässt – technisch doch überhaupt kein Problem.