REZENSION: Stephan Weinert / Klaus P. Stulle (Hrsg.) – Executive Assessment. Instrumente, Trends, Herausforderungen. Springer Gabler 2015.
Der Siegeszug des Assessment-Centers seit den 1950er-Jahren ist nicht zu übersehen. Aber es gibt – hier sei eine Anspielung auf den Asterix-Comic gestattet – eine auffällige Ausnahme im Status: die Top-Ebene im Unternehmen. Sie wird gerne „verschont“. Die Herausgeber dieses aufschlussreichen und umfassenden Werks mutmaßen, dies lasse sich hauptsächlich auf zwei Gründe zurückführen: Die Bereitschaft seniorer Führungskräfte zum Assessment sei recht niedrig ausgeprägt. Zudem herrsche ein Mangel an ernsthaften Kandidaten für solche Executive-Positionen. Aus der Not der mit der Auswahl beauftragten Entscheider heraus fand sich ein Kompromiss als Ausweg: das sogenannte Einzel-AC. Es erspart dem Top-Kandidaten den tendenziell riskanten sozialen Vergleich und produziert doch ein Ergebnis, das zur Auswahlbegründung taugt. Weil sich der Begriff Einzel-AC nun doch arg nach Widerspruch in sich anhört, nennt man solche Verfahren hierzulande gerne wohlklingender Management Audit. Was angelsächsisch enkulturierte Ohren wiederum verstört. International hat sich der Begriff Management Appraisal etabliert.
Was hat es damit nun auf sich? Handelt es sich hier um ernstzunehmende Diagnostik? Oder eher um rituelle (Schein-)Praktiken, die der Legitimierung anderweitig getroffener Entscheidungen dient? Im ersten Teil des Buchs wird der Markt der Executive-Assessment-Anbieter zunächst in seinen Grundzügen dargestellt. Im zweiten Teil steht das Instrumentarium grundsätzlich im Mittelpunkt: Aus welchen Elementen bestehen die Audits, welche Abläufe gibt es und welche Vorhersagekraft haben solche Verfahren eigentlich mit Blick auf den Führungserfolg? Zu letzterem Thema äußert sich Stefan Höft erhellend.
Daran schließt sich der dritte Teil „Anwendungsfelder und Rahmenbedingungen“ an. Das Thema „Executive Assessment“ wird im – durchaus nicht unproblematischen – Spannungsfeld zwischen Praxis und Wissenschaft aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. Hier stechen zwei Beiträge besonders hervor: Die Standards für Eignungs- und Potenzialdiagnostik im Top-Management des Kuratoriums Top-Management-Diagnostik, einer Projektgruppe des Arbeitskreises Assessement Center e. V., und der Beitrag zur diagnostischen Haltung von Rainer Bäcker und Isabell Klawitter. Die Letztgenannten leiten den Blick von den vordergründigen Technika zu den dahinter liegenden ethischen Implikationen, indem sie der Leserschaft gleich ein paar Fallbeispiele auftischen. Man mag sich leicht einfühlen in den Berater, der dem Auftraggeber „nur einen kleinen Gefallen“ tun oder, wenn er sich denn zieren mag, „nicht so anstellen“ soll. Wes Brot ich ess …? Die Autoren legen Wert auf ein diagnostisches Gegenstandsverständnis, das von einer Subjekt-Subjekt-Beziehung geprägt ist, und begründen dies rollentheoretisch. Der Diagnostiker befindet sich nur temporär in seiner Rolle. Er darf sich nicht Unfehlbarkeit anmaßen. Vielmehr sollte er anerkennen, „dass eine hochwertige Management-Diagnostik keine Diagnostik ‚über‘ jemanden, sondern ‚mit‘ jemanden ist“ (S. 125). Aus dem anspruchsvollen Business-Coaching kennt man die gleichartige Argumentation. Dort wird es „gemeinsame Augenhöhe“ und „Koproduktion“ genannt. Die Ableitungen aus einem solchen Verständnis sind dann – wie dort – ebenfalls stringent: Transparenz, Standards für Auswahl und Einsatz von Instrumentarien, doppelte Verantwortlichkeit (dem Auftraggeber wie dem Teilnehmer gegenüber), Respekt, Demut, Wertschätzung, Offenheit. Eine Positionierung weg vom bloß gutachtenden Fachexperten hin zum entwicklungsorientierten Berater. So ähnlich würden auch anspruchsvolle Business-Coaches ihr Ethos definieren.
Der vierte Teil des Buchs liefert über zirka 200 Seiten eine Tour d’horizon durch die deutsche Anbieterlandschaft. So ziemlich alles, was Rang und Namen hat, findet sich hier mit der Darstellung der eigenen Konzepte und Vorgehensweisen. Den Abschluss des Buchs liefern die Herausgeber mit einer Darstellung des Executive-Assessments aus Auftraggebersicht und einem Schlussplädoyer für eine „verstehende“ Management-Diagnostik, die für eine Abkehr vom Schulzeugnis-Verständnis“ argumentiert. Sie legen dar, welche unsinnigen Konsequenzen (in allen Fächern Bestnoten) jenes impliziert und dass die Managementperformanz nicht von unabhängigen (Einzelfächer), sondern von sich gegenseitig bedingenden Kompetenzen abhängig sei.
Den Herausgebern ist mit diesem Werk ein schöner Wurf gelungen. Es dürfte sich bald als Standardwerk im Markt etablieren. Und das ist auch gut so, denn damit wird in einem Markt, in dem sich auch selbsternannte „Experten“ mit fragwürdigen Praktiken tummeln, die sog. Latte hoch aufgelegt – und zwar Qualität als auch Ethos betreffend.
Die festgestellte Parallele zum Business-Coaching ist übrigens nicht nur bemerkenswert, sondern mitnichten trivial. Es lassen sich ähnliche Herausforderungen und Positionierungen in beiden Feldern finden, die nicht unbeträchtliche Schnittstellen teilen, wie schon Stefan Kühl (Die nur fast gelingende Schließung des Personalentwicklungszyklus, 2008) erklärte. Beide Professionen können und sollten voneinander lernen. Somit mag dieses Buch auch im interdisziplinären Dialog hilfreich sein und vielleicht auch dabei, ein gemeinsames professionelles Verständnis zu pflegen.