31. Juli 2025

Management auf den Punkt gebracht!

Sonnenuntergang

Ist das Kunst oder kann das mehr?

INSPIRATION: Philosophie und Beratung: Das klingt wie Theorie und Praxis. Warum sollte man seine Zeit verschwenden? Mit Grübeln, Spitzfindigkeiten und Wortakrobatik … Unverfügbarkeit: Ist das Kunst oder … brauchen wir das?

Davon träumt die westliche Welt. Und René Descartes hat das seinerzeit in eine kompakte Formel gebracht: „Maîtres et possesseurs de la nature“. Die Erde untertan zu machen. Wie es – schlecht übersetzt – schon in der Bibel heißen soll – aber mitnichten dort so steht (=Fake News). Schon manche Autoren haben sich am Thema gerieben: Haben oder Sein. Udo Jürgens, der verstorbene Schlagerstar, hat dem Thema sogar ein ganzes Lied (Die Krone der Schöpfung) gewidmet. „Was kümmert uns die Zukunft, wir beichten im Gebet: Verzeih‘ mir meine Habgier, denn mein ist der Planet!“


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„Mit all dem Streben, die Welt verfügbar zu machen,“ so Autor Thomas Bachmann (Unverfügbarkeit in der Beratung), „geht ein Paradoxon einher: Die Evolution bringt immer neue Formen und Arten hervor.“ Es entsteht immer mehr Differenzierung, immer mehr Komplexität. Und je mehr wir nach Verfügbarkeit streben, erzeugen wir immer mehr Unverfügbarkeit. Was an das vielköpfige Ungeheuer Hydra aus der griechischen Mythologie erinnert. Bachmann hingegen verweist auf die sogenannte Wassertropfenanalogie, die Maturana und Varela in den späten 1980ern als Metapher der Evolution beschrieben. Der Zeitpfeil ist unumkehrbar: Niemand schleppt Steine und Sand, die von den Berggipfeln abgebröselt sind, wieder hoch und pappt sie an alter Stelle wieder an.

Beratungsindustrie

Doch Menschen träumen von jenen Illusionen: Dass ihnen gebratene Tauben in den Mund fliegen. Und dass es irgendwelche Organisationen gibt, die solches ermöglichen. Beratung, so Autor Bachmann, hat sich in diese Industrielogik eingereiht. Dies habe der Soziologe Hartmut Rosa – ja, ich bekenne, da auch einmal arg abgelästert zu haben (Leuchtende Augen – und die Porzellankiste) – so schön auf den Punkt gebracht, und mit seinem Konzept der Unverfügbarkeit dagegengehalten. Das erinnert an Heinz von Foerster und die Kybernetik 2. Ordnung: Schwingt man sich auf die Metaebene empor und schaut herunter fragt man sich: Was machen die da unten bloß? Und: Ist das nicht lächerlich? – Was der Mainstream von Beratung gemeinhin erwartet, ist doch bloße Affirmation, Bestätigung und Befeuerung (Manche nennen es Motivation). Erinnert es nicht eher an einen anderen alt-griechischen Helden: an Sisyphos (Mandalas kreieren – und wieder zerstören)?

Nun lässt es sich auf Wolke Nr. 7 leicht lästern. Doch wie kann man „hier unten“ Beratung gut gestalten? Bachmann behauptet, dass es auf einem Kontinuum von Unverfügbarkeit und Verfügbarkeit geschehen müsse. Sie ist – so seine These – „für die Überraschung von Organisationen, Teams und Individuen zuständig“. Ihr Wert liege darin, unerwartete Impulse zu geben. Indem sie die Klienten mit auf die Metaebene nimmt, um ihnen einen alternativen Blick auf sich selbst zu ermöglichen, auf die Art und Weise, wie sie sich beobachten.

Und kein Wunder, dass sogleich die alte Unterscheidung von Ed Schein aufs Tapet wandert: Experten- und Prozessberatung. Sekundiert von der Differenzierung von Wolfgang Looss, „ob in der Beratung eher stabilisierend bzw. unterstützend oder irritierend bzw. aktivierend gearbeitet wird.“ Letzteres kannten wir als paradoxe Beschreibung längst von Arist von Schlippe und Jochen Schweitzer (Die Logik systemischer Interventionen), und ersteres haben wir selbst vor Jahren schon dekonstruiert (Systemisches Coaching). Aber solches zu lesen, steigert natürlich die Spannung: Wie wird der Autor also weiter argumentieren?

Dieser lässt noch einen weiteren Gewährsmann sekundieren: Christoph Schmidt-Lellek, der als Archetypen der Beratung Magier/Schamane, Prediger, Meister, Lehrer, Experte, Katalysator und Begleiter benennt. Dann geht es also darum, mit dem Fächer der Rollenkonzepte zu spielen. Auch interessant, aber immer noch kein Matchpoint, finde ich.

Ein Kontinuum von Unverfügbarkeit und Verfügbarkeit

Doch er erwischt mich noch, der Meister aus Berlin: Er bezieht sich auf die – mir wohlbekannten – Kommunikationsaxiome von Watzlawick & Co. Da gibt es die Unterscheidung zwischen symmetrischer und asymmetrischer Beziehung (Axiom Nr. 5). Keine Frage, dass vor allem systemische Berater – wie meine Wenigkeit – immer auf symmetrischer Beziehung bestehen. Wir nennen es gerne „Augenhöhe“. Doch Bachmann kontert gnadenlos: „Beratung kann nicht in einer symmetrischen Beziehung stattfinden.“ Touché!

He?! Wieso das nun nicht? „In der Beratung gehen Beratende und Klientensystem interessanterweise zwei komplementäre Beziehungen miteinander ein, wobei die eine Beziehung die andere sozusagen herbeiführt oder ermöglicht bzw. für die weitere Interaktionszeit rahmt,“ so Bachmann. Solche metakomplementären Beziehungen seien paradox. Es brauche eben beides zugleich: Irritation und Stabilität. Der Berater macht sich unverfügbar, er stellt Bedingungen. Ähnliches macht der Klient: Beratung ist also eher ein Tanz. Es braucht „ein gewisses Maß an Unverfügbarkeit, damit ihre Wirkung oder ihr Zauber entstehen kann.“

Doch Bachmann legt noch einen drauf: „Es gilt die Regel: Der Berater muss weniger verfügbar sein als der Klient. Denn die Klienten sollen selbst etwas verändern wollen, brauchen Handlungsdruck, suchen nach Unterstützung und Hilfe bei Beratungspersonen und nicht umgekehrt.“ Umgekehrt wäre schlecht, wenn der Coach hinter den Klienten herlaufen oder sie mit Sonderangeboten locken müsste … Das mag wieder an Steve De Shazers Unterscheidung von Besuchern, Klagende und Kunden erinnern. Der Kunde ist kein Konsument. Er ist Koproduzent und übernimmt damit zugleich Verantwortung für sich.

Tanz ums goldene Kalb

Christoph Schmidt-Lellek (Unverfügbarkeit – eine Erinnerung an Emmanuel Lévinas) nähert sich dem Thema aus Richtung der ethischen Philosophie. „Unverfügbarkeit“ ist für ihn „eine säkularisierte Variante des Protestes der alttestamentlichen Propheten gegen den ‘Götzendienst‘“. Man erinnere sich an das jüdische Bilderverbot: Du sollst Dir kein Bildnis machen! Nicht nur Gott als das ganz Andere und Unbeschreibliche. Sondern auch die Mitmenschen. Welche Radikalität! Der Streit um dieses Bilderverbot (und den Reduktionismus) trennte in Folge auch die christlichen Kirchen. Und der Streit lebt weiter bis in unsere Tage, wenn auch nicht immer so offensichtlich oder bewusst: Darf man andere in Schubladen stecken? Der Autor nennt ein paar solcher Etiketten: „Psychopath“, „Neurotiker“, „Narzisst“ oder „charismatische Führungskraft“.

Emmanuel Lévinas (1906-1995) ist wie Martin Buber (1878-1965) jüdischer Abstammung. Und ihre philosophischen Ansätze ähneln sich. Buber ist als Spiritus Rector der Gestaltpsychologie, aber auch des systemischen Denkens, nur viel bekannter. Wenn man vermutlich auch gut beraten ist, den philosophischen Tiefgang der meisten heutzutage praktizierenden Systemiker (und Gestaltpsychologen) nicht zu überschätzen. Aber das wäre noch einmal ein anderes Thema.

Lévinas kritisiert an der modernen Post-Aufklärungsphilosophie die Überheblichkeit und Übertreibung der Autonomie (Selbstbestimmung). Diese sei als Reflex gegen die Heteronomie (Fremdbestimmung) der Religion zwar verständlich. Indem sie sich und die Vernunft aber absolut setze, übertreibe sie maßlos und verliere die Heteronomie, in der sie sich zwangläufig befinde, die Beziehung und Angewiesenheit auf Andere, aus dem Blick. Das Subjekt (das Unterwerfende) hält sich für den Nabel der Welt und ignoriert in seinem Egoismus seine fundamentale Vernetzung und Abhängigkeit.

Beratungspraxis

Das (Beziehung) klingt stark nach Martin Buber. Und neben Autonomie/Heteronomie spielt Schmidt-Lellek die Philosophie von Lévinas noch an zwei weiteren Begriffspaaren, Bedürfnis/Begehren sowie Phänomen/Epiphanie, durch. Doch welche Relevanz hat diese Philosophie für die Beratungspraxis? Es gilt, so das Fazit, über eine reduzierende Wahrnehmung von Menschen hinauszukommen. Diese Haltung reduziert Menschen auf Dinge und beraubt sie – als „Narzisst“, Galle von Zimmer 17 oder Rentenversicherungsfall – ihrer Menschenwürde. Das zu kritisieren sollte man nicht als „schöngeistigen Luxus“ abtun, „der im professionellen Alltag keinen Platz hätte“.

Es geht hier um alles: um Menschenwürde. Diese Diskussion geht also nicht nur Philosophen an. Da fallen mir sogleich Adorno/Horkheimer ein: Dialektik der Aufklärung. Es betrifft auch nicht nur Bürokraten. Der „Erfinder“ der Bürokratie, Max Weber, hat selbst vor dem totalitären Charakter gewarnt (Päpstlicher als der Papst). Und wenn heute leichtfertig die Abschaffung der Bürokratie gefordert wird, dann stellt sich sogleich die Frage, was an deren Stelle treten soll: die Anarchie? Wohlwissend, dass auch Anarchie nicht bloß Negatives („Chaos“) meinen muss, sondern von seinen frühen Protagonisten (z.B.: Proudhon) als „Ordnung ohne Herrschaft“ verstanden werden wollte. Der Weg von dort zur Genossenschaft wäre ein Katzensprung.

Romantik?

Die „Andersartigkeit des Anderen“ (Lévinas) ist eine Frage. Wir müssen darauf täglich eine gute Antwort finden, weil sich darin die ganze Fallhöhe unserer Existenz abzeichnet. Manchem ereilt die Erleuchtung Up in the air – wie George Clooney als Ryan Bingham in der US-amerikanische Tragikomödie aus dem Jahr 2009. Andere entdecken nach langer, exzessiver Zeit im Management erst im Coaching, dass sie von ihren eigenen Kindern längst bloß noch Onkel genannt werden. Manche Manager entdecken auch erst beim Seitenwechsel, in welchen anderen Welten andere Menschen leben. Und manche Ärzte erfahren erst, wenn sie selbst „unters Messer“ müssen, in welchem System sie arbeiten – und welche Rolle sie all die Zeit dort eingenommen haben.

Ist das Romantik oder Zeit, die Gießkanne zu holen, um die Rose zu gießen (Der kleine Prinz)?

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Thomas Webers

Dipl.-Psych., Dipl.-Theol., Fachpsychologe ABO-Psychologie (DGPs/BDP), Lehrbeauftragter der Hochschule Fresenius (Köln), Business-Coach, Publizist

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Ein Gedanke zu “Ist das Kunst oder kann das mehr?

  1. Ja, da geht einiges durcheinander: theologische, praktische und phänomenologische Sichtweisen, Kategorienfehler und Machtphantasien von Berater:innen. Meine Empfehlung: schön langsam und im Kontext denken.
    Die praktische Idee der Inszenierung unterschiedlicher Grade von Verfügbarkeit würde für mich allerdings sofort gestrichen. Als Kunde bin ich „verschnupft“ (ich merke die Absicht), wenn ich uralte Strategien der administrativen Machtausübung in der Gestaltung von Beratungsbeziehung wiederfinde. Da bin ich stark für Augenhöhe auch in einer asymetrischen Kommunikation, einfach sagen (authentisch), was geht und was nicht. Nur so geht Dialog und Partnerschaft.

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