20. Mai 2024

Management auf den Punkt gebracht!

Päpstlicher als der Papst

INSPIRATION: Während Deutschland unterm Bürokratietrauma stöhnt, lohnt sich der Blick auf die Anfänge – den Gründervater. Und auf die deutsche Kultur. Die ist nämlich sowas von widersprüchlich.

„Wenn die Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, lösen sie vorher eine Bahnsteigkarte.“ Das hat nicht Christian Lindner gesagt, sondern Wladimir Ilitsch Lenin. Und das ist 100 Jahre her. Und ob wir heute Leopard-2-Panzer an die Ukraine liefern, F-16-Kampfflugzeuge oder Taurus-Marschflugkörper – all das hat damit natürlich überhaupt nichts zu tun … Bei den Österreichern heißen wir Deutsche Piefkes. Warum spiele ich hier so hoch emotionale Karten aus?


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Nun, ich denke, der Blick in die Geschichte ist immer sinnvoll – und manchmal auch hilfreich. Weil er nachdenklich machen kann. Und das kann doch nicht so verkehrt sein. Vielleicht bekommen wir so ein wenig Abstand. Und gewinnen ein wenig Gelassenheit. Die Autoren Fabiola H. Gerpott und Rudolf Kerschreiter (Max Weber. Bürokratie oder Bürokratisierung?) haben sich mit dem Soziologen Max Weber einen besonderen Klassiker der Organisationsforschung (so heißt die Reihe in der Zeitschrift Organisationsentwicklung) herausgesucht. Sein Name ist mit dem Stichwort Bürokratie aufs Engste verknüpft. Er ist der Vater dieses Organisationsmodells.

Was zum Teufel hat ihn seinerzeit geritten, die Bürokratie als die höchste Form der Organisation auszurufen? Nun, viele dürften das nicht wissen: Er grenzt sie gegen vergangene Herrschaftsformen ab, gegen die Herrschaft von Königen, Fürsten, Adligen – also Herrschaft qua Geburt. Aber auch ab gegen die Herrschaft des Stärkeren, des Reicheren, desjenigen mit dem größten Fanclub (Charisma). Das war revolutionär in den 1920er-Jahren. Das war demokratisch. Macht sollte einzig und allein auf Gesetzen beruhen.

Vor dem Gesetz sind alle gleich

Statt „Verwandtschaft vom Chef“, statt Schmiergeld, statt Drohungen mit der Faust oder anderen Gewaltmitteln – Nümmerchen ziehen und sich in der Schlange anstellen. Gerechtigkeit! Aber all das hat seinen Preis. „Bürokratie und Bürokratismus werden zu schnell gleichgesetzt. Dabei bedeutet Bürokratie im strengen Sinne erst einmal nur, dass es klare Entscheidungswege, Verantwortlichkeiten und Kompetenzbereiche gibt.“

Weber selbst hat die Kehrseite der Medaille seines idealtypischen Modells gesehen. Er nannte es das „stahlharte Gehäuse“ oder auch den „Eisenkäfig“. Wir würden es heute mit Heinz von Foerster „Maschinenmodell“ nennen. Wir sollten die Augen auch nicht vor der fatalen Liaison dieses „Eisenkäfigs“ mit dem charismatischen Führermodell in den 1930er-Jahren verschließen. Das sollte uns Deutschen eigentlich eine Lehre sein. Aber drehen wir den Spieß einmal um und schaffen die Bürokratie ab, wie das manche an den Stammtischen fordern, was würden wir dann ernten? Die pure Anarchie. Würden wir das wollen? Oder würden wir nicht doch die Stabilität und Verlässlichkeit bevorzugen? Die Autoren leiten daher drei Handlungsimplikationen aus dem Weberschen Denken ab:

  1. Professionalisierung von Personal und Technik: „Nur dann, wenn die betreffenden Mitarbeitenden so ausgestattet und ausgebildet sind, dass sie ihren zunehmend komplexeren Aufgaben auch tatsächlich gerecht werden können, ist eine effektiv funktionierende Bürokratie überhaupt denkbar.“
  2. Professionalisierung der Personalführung: „Erfolgreicher Einfluss der Führungskraft auf die Mitarbeitenden kann erwachsen, wenn die Führungskraft es versteht, gemeinsam mit ihren Mitarbeitenden ein Verständnis davon zu entwickeln, ‚wer wir sind‘ und damit dieses ‚wir‘ bzw. die sogenannte ‚geteilte soziale Identität‘ der Gruppe Orientierung gibt und Motivation erzeugt.“
  3. Kontinuierliche kritische Reflexion etablierter Regelungen: „Offensichtlich haben Verwaltungen, die ihre Regelungen regelmäßig entsprechend der aktuellen Möglichkeiten anpassen, einen erheblichen Effektivitätsvorteil.“

Bürokratie oder Bürokratismus?

Dass das Bürokratiemodell in Deutschland entwickelt wurde, ist insofern auch tragisch. Neigen wir Deutschen doch leider viel zu oft dazu, päpstlicher als der Papst zu sein. Doch wir müssen Bürokratie nicht mit Planwirtschaft gleichsetzen. Bürokratie kann man auch flexibel konzipieren. Satzungen und Regeln müssen nicht in Stein gemeißelt werden, sie müssen nicht bis in alle Ewigkeiten gelten. Und es ist erhellend, dass die Autoren die Holokratie als moderne Organisationsform anführen, als eine Weiterentwicklung: „… so dass eine Regelung in manch modernen Organisationen heute durchaus schriftlich fixiert, dass in bestimmten Bereichen oder einer bestimmten Organisation insgesamt eben gerade keine Einzelperson das Sagen hat, sondern Aushandlungsprozesse zwischen den Mitgliedern an die Stelle klar zugewiesener Hierarchie treten.“

Damit erscheint ein praktikabler Mittelweg zwischen „Eisenkäfig“ und Anarchie möglich: „Weber hat ein Prinzip beschrieben, das regelbasierte Vorgehen, und das erlaubt Flexibilität; ‚gesatzte Regeln‘ können in einem – idealerweise demokratischen – Prozess weiterentwickelt werden.“ Man nennt das Organisationsentwicklung. – Ein schöner, erhellender Beitrag!

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