REZENSION: Thomas Sattelberger – Radikal neu. Gegen Mittelmaß und Abstieg in Politik und Wirtschaft. Herder 2023.
Er ist ein Business-Leader, der in verschiedenen führenden Rollen in der Wirtschaft tätig war – unter anderem als Personalchef der Deutschen Telekom AG. Und er ist ein Politiker, der nach einer Zeit in der Opposition in den Jahren 2021-22 als Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) tätig war. Und dort hat er die berühmten Brocken geschmissen. Der Mann hat etwas zu erzählen, keine Frage.
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Denn er ist ein Getriebener. Ein Mensch mit Ambitionen und Herzblut. Und als solcher geriet er immer wieder in die Situation, gegen Wände anzurennen, seine Mitmenschen zu überfordern. Er wurde immer wieder als Querulant, als Störenfried wahrgenommen, der die eingefahrenen und behäbigen Zirkel der Macht störte. Andere sahen in ihm den Visionär und Propheten, der mit Beharrlichkeit und Mut für die Sache stritt. Einer, der ein breites Kreuz besitzt, extrem fleißig und ehrgeizig ist. Und nicht lockerlässt. Insofern waren etliche Zeitgenossen überrascht und erschrocken, als sie von seinem Rückzug aus dem politischen Spitzenamt hörten.
Wenn der Prophet vom Berg herabsteigt
Man kann die Botschaft aber auch so verstehen: Wenn gar einer wie Thomas Sattelberger die Brocken schmeißt, dann muss „Holland in Not“ sein. Dann ist mit der Politik kein Staat mehr zu machen. Dann müssen es andere Kräfte in die Hand nehmen. Und so liest sich auch dieser Buchtitel – es ist nicht das erste Buch des Autors – stringent als Notbremse: Wir sind in der Sackgasse! Und wir müssen da schnellstmöglich wieder raus – wenn wir eine Zukunft haben wollen. Es ist nicht der Muff von tausend Jahren, den die 68er-Generation beklagt hat. Es ist die bräsige Zufriedenheit der Post-68er-Generation, die diese Gesellschaft in den Tiefschlaf geschaukelt hat.
Sogleich fällt einem die schräge Metapher mit dem Frosch ein, der im Wasserglas sitzt und fröhlich vor sich hin quakt, während man unter ihm ein Feuer entzündet, das ihn gleich kochen wird. Diese viel beschworene Change-Metapher, ich erinnere mich an ein kurzes Video mit dem ehemaligen Vizepräsidenten der USA und Klimaaktivisten Al Gore (Slow death), ist falsch, wie uns Biologen schnell erklären können. Aber die Metapher versinnbildlicht doch recht klar unsere Situation in den 2020ern: Ein Land von selbstzufriedenen Etablierten und machtbewussten Strippenziehern, die ihren Status quo, gerne ideologisch verbrämt, erhalten wollen – egal, ob das enkeltauglich ist oder nicht. Nach uns die Sintflut!
Der Tanz ums goldene Kalb
Warum ist das so und was können wir tun? Sattelberger geht hart ins Gericht mit den Mächtigen in diesem Land. Aber ebenfalls mit den Subalternen, mit den Medien und selbst mit dem „kleinen Mann“. „Die Politik ist ein System organisierten Misstrauens, in dem so viele bei Verdienst und Berufsweg abhängig sind vom parlamentarischen Futtertrog,“ lautet eine fundamentale Erkenntnis des Autors. Nicht um die Sache und um das Wohl des Landes geht es primär in der Politik, sondern um persönliche Pfründe, die in der parlamentarischen Schlangengrube gesichert werden wollen. Und wem das nicht heilig ist, dem ist es die eigene Ideologie – auch wenn sie nicht zur Praxis passt. Von diesem System können wir uns keine Hilfe für das Land und die Zukunft erwarten. Es wird nur faule Kompromisse und Mittelmaß produzieren, so Sattelberger.
In der Wirtschaft gelten etwas andere Spielregeln. Da werden Funktionäre, die keine Ergebnisse liefern, gefeuert. Unternehmen, die keine Gewinne machen, gehen den Bach runter. Manager, die gegen Compliance verstoßen, werden entsorgt. Sattelberger kennt diese Welt nur zu gut. Er hat sich den Weg an die Spitze selbst erarbeitet. Ohne Zweifel: Auch dort kann man Gerontokratie, Seilschaften und faule Deals beobachten. Doch es gibt dort keinen Beamtenstatus. Aber Wettbewerb.
Deutschland: der kranke Mann Europas
Das Thema, dass Sattelberger eine Herzensangelegenheit ist, lautet Innovation. Und diese ist unmittelbar mit dem Thema Digitalisierung verbunden. Und da sieht es – leider (!) – verdammt schlecht aus in diesem Land. Allgemein ist die Bevölkerung konservativ und satt. Auch Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg konnten da kaum etwas ändern. Aber auch, weil sie nicht ermutigt und unterstützt wird. Im Gegenteil: Sie wird von oben ausgebremst. Vom Staat und von der Wissenschaftsbürokratie. Deutschland ist der kranke Mann Europas. Und merkt es noch nicht einmal. Weil sich alle einreden, dass doch alles ok ist. Und so klopft man sich gegenseitig auf die Schulter. Verschließt die Augen vor dem drohenden Tsunami. Schon vor 30 Jahren wurde hierzulande eindringlich vor dem Fachkräftemangel und der demografischen Entwicklung gewarnt. Passiert ist kaum etwas. Heute ruft man nach Fachkräften. Man erkennt aber den Zusammenhang nicht zwischen Untätigkeit, Bequemlichkeit, sogar aktiver Blockadepolitik und der aktuellen Situation. Armes Deutschland!
Der jungen Generation empfiehlt der Autor daher, die großen wirtschaftlichen Tanker und Bürokratien mit ihrer „Wasch‘ mir den Pelz, aber mach‘ mich nicht nass“-Ideologie zu meiden, und sich selbstständig zu machen oder mit Gleichgesinnten zusammenzutun. Hierfür bräuchte es allerdings politische Rahmenbedingungen, die das „System“ aber nicht gewähren möchte. Stattdessen verfolgt man den Unternehmergeist mit dem Schreckgespenst der Scheinselbstständigkeit. Wieder Sattelberger: „Die linke Mafia des traditionellen Arbeitsmarkts beschwört immer gerne Katastrophenszenarien und verbreitet Angst und Schrecken, um jegliche Änderung am Status quo zu verhindern.“ Die Spaßbremse sitzt seiner Meinung nach im Beamtentum: „Dieser deutsche Beamtenapparat ist Herzstück und zugleich Schutzwall geschlossener Systeme.“ Sollte der Gesetzgeber tatsächlich einmal eine schlaue und zukunftsweisende Idee beschlossen haben, wird sie garantiert dort ausgebremst.
Ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will …
Als Beispiel präsentiert uns der Autor ausgerechnet die Frauenquote. Er selbst war einer der Protagonisten im Lande, als er sie seinerzeit bei der Telekom eingeführt hat. Genüsslich führt er der Leserschaft vor Augen, wie diese Idee in der Praxis in ihr glattes Gegenteil pervertiert wurde. Mit dem Quotenhammer in der Hand kann man Diversity ruinieren – und das Talentmanagement und die Kulturpolitik gleich mit. Bei welchen Themen liegt es noch im Argen? Beim Thema Bildung natürlich. Dafür bräuchten wir Sattelberger eigentlich nicht. Der edukative Offenbarungseid ist seit Jahrzehnten öffentlich zu besichtigen – oder zu erschnüffeln, wenn man sich einmal auf Toiletten in Schulen wagt. Passiert ist auch hier kaum etwas. Weil das Thema Bildung ideologisch vermint ist. Doch die Beispiele und Vorschläge, die der Autor bringt, sind klar und richtungsweisend. Wir brauchen Freiheit im Bildungswesen statt bürokratischer Bevormundung. Und wir brauchen dritte Orte. Gerade bei diesem Thema wird auch klar, wie der Föderalismus in Deutschland Veränderungen systematisch verhindert. Die Schulen als Institutionen sind für den Autor reformunfähig.
New Work, new Economy, new Society
Sattelberger knöpft sich auch das Thema New Work vor. Und er kommt zu keinem anderen Urteil als die Autoren Schermuly und Meifert (Wasch‘ mir den Pelz, aber): Wer New Work auf Homeoffice reduziert oder auf das Großraumbüroformat „Legehennen“, offenbart damit, wes Geistes Kind er ist. Das der alten Welt. Wenn Deutschland so Weltmeister werden will – keine Chance! „Wir müssen Soziale Marktwirtschaft weiterentwickeln hin zu einer Humanen Marktwirtschaft, die digitale, soziale und ökologische Herausforderungen explizit einbezieht.“ Gelingen soll das mittels dreier Prinzipien: Ambidextrie, Dritte Orte, New-Work.
Die Bürger sollen das Gemeinsame und die Zukunft selbst in die Hand nehmen, so Sattelberger. Die Politik, die Bürokraten und Patriarchen werden es nicht für sie richten. – Ein mit viel Verve vorgetragener, sehr fundiert argumentierender Aufruf. Die Lektüre ist kurzweilig und erhellend. Jetzt fehlt nur noch die Massenbewegung dazu.