INSPIRATION: Es gibt noch nicht sehr viele Organisationen, die mit Holokratie experimentieren. Dass sich ausgerechnet ein kommunales Versorgungsunternehmen (Stadtwerke Konstanz) an das Thema wagt, überrascht zunächst. Doch die Auslöser erscheinen plausibel: Gravierende Veränderungen im Bereich Mobilität (Technologie-, Markt- und Wettbewerbsumfeld) sowie höhere Wechselbereitschaft der Kundschaft im Kerngeschäft der Energieversorgung werden für das alte, stabile und erfolgreiche Geschäftsmodell zur Bedrohung. Man muss etwas tun. Und wie so häufig lautet die Antwort: Flexibilisierung der Prozesse und Veränderung der Organisationskultur durch Dezentralisierung, Empowerment, Kundenorientierung und organisationale Dynamisierung. Deshalb entschließt man sich, Holokratie einzuführen. Respekt!
Die Erfahrungen sind jedoch ambivalent. Nach Monaten zeigt sich, „dass die Holokratie vor allem in wissensgetriebenen, kreativen Wertschöpfungstätigkeiten (z. B. Produktentwicklung, Marketing, Kundenservice) einen wahrnehmbaren Mehrwert erzeugt, während eine hierarchische Strukturierung für tätigkeitsgetriebene Wertschöpfungsarbeit (z. B. Busbetrieb, Montagetätigkeiten) weiterhin sinnvoll ist.“ Der Konstanzer Weg, ein Kompromiss oder ein Hybridmodell, war geboren. Interessant ist, dass eine Mitarbeiterbefragung zeigt, dass es insbesondere den alten Führungskräften nicht wirklich gelingt, Kontrolle abzugeben. Es dämmert dem Unternehmen, dass Kulturentwicklung ein deutlich längerer Prozess als gedacht ist.
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Kulturentwicklung braucht Zeit
Offenbar hat man die Mitarbeiter überfordert. Das partielle Scheitern attribuieren die Autoren (Einführung einer holokratischen Organisationsstruktur) nun resümierend auf „das dogmatische Konzept der holokratischen Organisationssteuerung,“ das in einem „komplexen Mischkonzern“ schwierig umzusetzen sei, und auf Kultur und Tempo. Solcherlei Argumentation kommt einem Armutszeugnis gleich. Denn von Management und Beratern darf man Organisationsentwicklungskompetenz erwarten – statt billige Ausreden. So hat Inversini in der Organisationsentwicklung schon vor etlichen Jahren mit dem Kontingenzmodell des Wandels einen Ansatz vorgestellt, der mit der Überprüfung der Changeability (oder: Change Readiness) startet, um dann ein angepasstes, maßgeschneidertes Vorgehen zu entwickeln. Damit verhindert man, dass man die Mitarbeiter überfordert und Change-Ruinen produziert werden. Auch speziell für die Umsetzung von Holokratie gibt es inzwischen wertvolle Hinweise.
Trotzdem komme ich nicht umhin, dieses Beispiel auch zu loben: Die Leute in Konstanz sind echt mutig und bleiben offenbar auch dran an der Sache. Das finde ich super! Es wäre bestimmt spannend, von ihnen in zwei bis drei Jahren noch einmal zu lesen. Oder sie vielleicht auch zu einem Webinar mit uns einzuladen.
Der Preis, den man zahlen muss
Dass man es sich nicht zu leicht machen sollte mit der Einführung neuer Organisationsformen wie der Holokratie, zeigt auch der Beitrag von Stefan Kühl und Phanmika Sua-Ngam-Iam (Die Hyperformalisierung von Organisationen) im selben Heft. Die Autoren arbeiten nicht nur die Vorteile der Holokratie heraus, sondern kontrastieren diese auch mit Nachteilen (ungewollte Nebenfolgen). Die ständige Iterativität produziere möglicherweise eine permanente Unsicherheit der Mitglieder: Was gilt jetzt gerade, fragen diese sich? Zudem neige die Formalstruktur zum Wuchern. Es würden immer wieder neue Regeln angebaut, aber alte vermutlich nicht mit gleichem Elan entsorgt. So wird es unübersichtlich. Auch wenn man prinzipiell alles ständig ändern kann, es muss dies alles jedoch durchs Nadelöhr der „Formelsammlung“ prozessiert werden. Das mag man auch als anstrengend und ermüdend erleben. So vermuten die Autoren, dass der Preis, den man für diese Organisationsform zahlen muss, darin besteht, vermehrt Rollenkonflikte zu erleben und diese klären zu müssen.
So bleibt die alte Quintessenz gültig: Es gibt keine perfekte, optimale Organisationsform. Jede Form hat Vor- und Nachteile. Und es kommt auch immer auf den Kontext an, ob sie sich als passend erweist. Diesem Fazit schließt sich auch Altmeister Hans A. Wüthrich im selben Heft (Das Geheimnis perfekter Führung) an. Dem ist nichts hinzuzufügen.