PRAXIS: Über Kulturveränderung liest man oft wenig Hilfreiches. Es will einem glatt das Herz brechen. Zumeist bleibt es bei Appellen an die Mitarbeitenden. Oder es werden Hauruck-Maßnahmen verordnet. Zum Glück gibt es auch immer wieder Lichtblicke.
Kultur funktioniert wie das Immunsystem einer Organisation: Fremdes wird entsorgt. Wer Kultur wirklich verändern will, muss anders vorgehen. Der muss dafür sorgen, dass das Immunsystem lernt, toleranter mit Fremden umgeht. Das erfordert ständige, niedrigschwellige Konfrontation mit Herausforderungen, Geduld und Nachhaltigkeit – und viele Diskussionen. Das Veränderungsmanagement der Deutschen Bahn AG arbeitet seit 2022 mit der KompassChallenge für bestehende Führungsteams.
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„Dieser so genannte ‚Kompass für ein starkes Miteinander‘ ist Teil der Unternehmensstrategie,“ so Autorin Alina Barenz (Mit Routinen Kultur verändern). Er ist ein Führungsleitbild. Doch wie so oft wird, was auf dem Papier steht, in der Praxis nur mittelmäßig umgesetzt. Da nutzen weder Sonntags- noch Gardinenpredigten. Was aber hilft, und das ist nicht neu (Experimente mit ungewissem Ausgang), wird nur bislang zu wenig praktiziert, sind Experimente.
Lob des Experiments
Das faszinierende an Experimenten ist deren Doppelbödigkeit, das Als-ob. Das ist wie mit einer guten Frage: Man sagt nicht konfrontativ: „Ihr Service ist unter aller Kanone!“ Darauf erntet man in der Regel Reaktanz. Sondern fragt verständnisvoll: „Könnte es sein, dass ihr Service deutlich verbesserungsfähig ist?“ Darauf kann man potenziell immer auch ein schroffes Nein zu hören bekommen. Aber oft genug antwortet die Gegenseite auch mit einem verständnisvollen „Na ja, da mag was dran sein …“ – und schon ist man mitten im Veränderungsdialog!
Solches scheint man sich bei der Bahn auch zu Herzen genommen haben. Die Idee war folglich, die Führungskräfte zu Experimenten zu animieren, die geschickt nach ähnlichem Muster gestrickt sind. Es galt also, Experimente „mit hoher psychologischer Sicherheit und Erlebnischarakter, mit minimalem Zeitaufwand, eingebettet in den Arbeitsalltag, passend zum individuellen Kontext und zugleich wiederholbar und skalierbar“ zu gestalten. „Vor allem sollte das Angebot ein starkes Miteinander erlebbar machen.“ – Was eignet sich da besser als eine Challenge?
Challenge
Das Projekt läuft über 12 Wochen. Es geht dabei um „das Ausprobieren, Reflektieren und Verankern von möglichen Routinen für die Zusammenarbeit.“ Das Wissen, wie Veränderung geht, hat man schlicht vorausgesetzt. Was es aber braucht, sind Gelegenheiten. Und die muss man schaffen. Zugleich sind diese eingebettet in die Challenge. Man tritt also aus dem Trott heraus – und wird dabei von anderen beobachtet. Der Trott ist also der Ansatzpunkt. Und die Challenge ist die Erlaubnis, innezuhalten, wahrzunehmen, zu reflektieren und Neues auszuprobieren.
In der Challenge rückt man den Routinen – übrigens gemäß der Tiny Habits®-Methode – auf dreifache Weise auf die Pelle:
- Missionen: Sie „beschreiben mögliche Routinen im Miteinander, die mindestens ein Kompass-Prinzip stärken. Es gibt ein Set von mittlerweile über 100 Missionen.“ So geht es beispielsweise in der sogenannten Mission „Konjunktiv-Diät“ darum, auf den Gebrauch von „wäre, sollte, müsste“ zu achten und zunehmend zu vermeiden.
- Interaktionen: Das sind obligatorische, stark formalisierte Nachbesprechungen der Missionen in vier Runden: 1. Was haben wir beobachtet? 2. Wie hat es sich angefühlt? 3. Was könnte das bedeuten? 4. Was macht jetzt Sinn?
- Ablauf: Dieser ist einerseits hoch standardisiert (skalierbar), andererseits wird er individuell erlebbar.
Der Prozess
Die Challenge verläuft nach einem klaren Prozessmodell, das mit einem „Aufbruch-Workshop“ startet. Hier wählen die einzelnen Teammitglieder u.a. ihre Themen aus. Dann geht es in die individuelle Umsetzung im Team und mittels Tandems. Ein „Zwischenhalt“ (man beachte: Bahn-Jargon) und ein Abschluss folgen. Als optionale Online-Veranstaltungen zur Vertiefung von Themen sind sogenannte „Perspektivwechsel“ möglich. Die Teams werden von einem intern qualifizierten „Kompass-Coach“ begleitet, die wiederum in einer eigenen Community organisiert sind.
Das ganze Konzept erscheint gut durchdacht und weist viele Ähnlichkeiten mit dem Rückfallmanagement-Modell von Axel Koch auf (Gelerntes umsetzen). Seit dem Start der Challenge-Kampagne bei der Bahn im Jahr 2022 haben mehr als 70 Führungsteams aus 14 Geschäftsfeldern und Gesellschaften am Programm teilgenommen. Inzwischen ist das Angebot auch Teil des Portfolios der DB Akademie. Damit werden rund 11.000 DB-Führungskräfte angesprochen.