20. Mai 2024

Management auf den Punkt gebracht!

Alles eine Frage der Imagination?

INSPIRATION: Die Zukunft des Coachings – heißt es unisono – sei eine virtuelle. Die Corona-Pandemie habe gezeigt, dass „es“ online gehe. Warum reisen? Warum sich physisch exponieren? Coaching at your fingertips – hier kommt die Gegenrede.

In der Tat werden in solchen euphorischen Argumentationen leichtfertig diverse Unterstellungen gemacht – und zu einem optimistischen Bild verklärt. Da lohnt ein differenzierender Blick allemal. Und den bekommt man in der diesjährigen Coaching-Beilage zur Juli-Ausgabe von managerSeminare geboten. Das will ich einmal ausdrücklich loben!


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Die Industrialisierung des Coachings

Die Technische Entwicklung schreitet unaufhaltsam voran. Stefan Stenzel (Schlüsseldisziplin im Morgen) blättert die Szenerie mit großer Fachkenntnis auf: Digitalisierung, Virtual Reality & Co. Davon haben sich die etablierten Coaches lange nicht beeindrucken lassen. Ob sie es nicht wollten? Nicht brauchten? Es gar fürchteten? Natürlich war „Corona“ hier ein Dammbruch. Die skeptischen Stimmen wurden schnell untergebügelt und die Nachdenklichen als Miesepeter abgecancelt. Obwohl die Skeptiker doch zu einem weiten Teil recht haben mit dem Hinweis auf anspruchsvolle Voraussetzungen des Online-Settings, was die Forschung inzwischen auch eindrucksvoll belegt (Wessen einziges Instrument ein Hammer ist). Doch das Simple und Bequeme ist für viele mehr als attraktiv. Kein Wunder also, wenn hier schnell die Grenzen verschwimmen und so allerlei zum Coaching geadelt wird, was andere naserümpfend als Bildungshäppchen abqualifizieren würden.

Die Realität ist: Es gibt gar viele Menschen, die auf Fast Food stehen. Wenn man bloß abwertend auf den Trend reagiert, bekommt man prompt die Retourkutsche als Spielverderber. Doch verliert man sich so im Nebensächlichen. Und verliert neben dem Geplänkel das Wichtige aus dem Blick: Dass quasi zeitgleich zum Online-Coaching-Boom eine neue Marktvariante, nämlich die Digital Coaching Provider (DCPs), populär geworden sind. Diese, angefüttert mit vielen Millionen von Investmentgeldern, versprechen und propagieren eine Industrialisierung des Coachings. Den vollautomatischen Coaching-Prozess von A (wie Akquisition) bis Z (wie Zielerreichung). Das klingt verlockend für viele Unternehmen, die in der Folge gleich ihre Personalentwicklung abschaffen (outsourcen), und für manche Coaches, die sich dort verdingen und für sparsames Honorar das Marketing abgenommen bekommen. Verlockend mag es auch für Mitarbeitende oder Privatleute sein, die die Plattform als Basar erleben und nach den berühmt-berüchtigten 5-Sterne-Ranking entscheiden. Und zuletzt freut sich die Plattform, weil sie skalieren kann, wie das so schön in der BWL heißt. „Miesepeter“ wie ich würden sagen: Es geht hier schlicht ums Geldverdienen. Aus einer hochprofessionellen, individualisierten Dienstleitung wird ein massentaugliches Produkt für Konsumenten gemacht. Für mich sind im Angebot der „Systemgastronomie“ etliche gravierende Fragen offen. Und von Antwortversuchen à la „Das macht unser Algorithmus“ lasse ich mich natürlich wenig beeindrucken.

Es treffen sich also zwei starke Trends: Der Wunsch des Publikums nach ein wenig Anregung und Selbstoptimierung und die tendenziell gierige Plattformökonomie. Und dann fehlt nur noch eine dritte Zutat zum perfekten Glück: die allmächtige, empathische KI. Autor Stenzel malt hier kundig diverse Szenarien (Use Cases) für die Zukunft des Coachings aus. Letztlich wird – so der erkennbare Trend – Coaching auf eine allgemeine Lernbegleitung reduziert. Wer die Augen auf macht, erkennt das heute schon in weiten Strecken. Die gut ausgebildeten, professionellen Coaches mögen das bedauern. Oder ihre Nische suchen und finden.

Digital-Allergie?

Harald Geißler (Rollback ins Analoge) sieht die Sache mit der digitalen Zukunft etwas anders. Der deutsche Pionier des Online-Coachings und pensionierte Pädagogikprofessor beobachtet aktuell ein Rollback in Richtung Präsenzcoaching. Das Digitale sei zwar verlockend, doch speise sich Coaching aus zwei Wurzeln:

  • Die philosophische Aufklärung: Bediene dich deines Verstands! „Hilfe zur Selbsthilfe, Selbstentwicklung – diese zentralen Gedanken der Aufklärung hat Coaching tief internalisiert.“ Wissenschaft und technologischer Fortschritt verhießen Freiheit von den Zwängen der Natur und einer sakrosankten Obrigkeit.
  • Die religiöse Tradition: Ob im christlichen oder heidnischen Sinne – die helfende Beziehungen zu Heiligen, Heilern, Geistlichen oder Magiern gibt dem Einzelnen die nötige Unterstützung. „Von dieser magischen Aura hat Coaching als helfende Profession im kollektiven Gedächtnis etwas geerbt.“ Sie lebt von der Unmittelbarkeit.

„Da ist viel Sehnsucht nach „echter“ Begegnung und Beziehung, die kollektiv umso mehr wächst, je digitaler wir arbeiten, uns organisieren, leben.“ Sollen wir es Romantik nennen?

Oder Synästhesie?

Erst wenn die digitale Technologie diese Kluft der Unmittelbarkeit überbrücken kann, wird sie sich durchsetzen. Daran zweifelt Autor Geißler nicht. Er verweist auf den Möglichkeitsraum des „Als ob“, von dem man weiß, dass er entscheidend für Veränderung ist – wie schon hypnosystemische und lösungsfokussierte Schulen gezeigt hätten. Die digitale Technologie könne dieses Erleben erfolgreicher (oder soll ich lästern: skalierbarer!) bespielen.

Allerdings hält Geißler die Avatarisierung hier für einen falschen Weg, da diese Medialisierung zu viel Aufmerksamkeit absorbiere, die dann für den Coaching-Prozess fehle. Visualisierung sei die einfachere und bessere Variante. Jedenfalls in naher Zukunft. Darüber hinaus erwartet er in weiterer Zukunft jedoch eine Verschmelzung von „Technik- und Fortschrittsbegeisterung der Aufklärung und magischem Denken der Vorgeschichte“ in virtuellen Welten mit Avataren. Alles geschuldet der menschlichen Fähigkeit zur Imagination.

Warum denn in die Ferne schweifen?

Christian Thiele (Weiterkommen durch Rausgehen) ruft die Couch-Potatoes aus dem (Kinder-)Zimmer in die Natur und bricht eine Lanze fürs Outdoor-Coaching. Dafür sprächen inzwischen auch einige wissenschaftliche Studien. Natur-Coaching sei deutlich stressmindernd und fördere generell die Erholung: „Das Nebeneinander-Sein, die Bewegung von A nach B, die Naturerfahrung, der Perspektivwechsel und die sinnlich-emotionale Erfahrung in der Natur.“

Wenn Outdoor-Coaching nicht auch die gesundheitsförderlichere Alternative zur digitalen Stubenhockerei wäre! Die „höhere Kongruenz mit dem eigenen Sein und Erleben“ lässt sich leichter direkt als in und über virtuelle Welten erleben, könnte man schlussfolgern. Na ja, Outdoor mag nicht jedermanns Sache sein. Aber virtuelle Welten müssen dies genauso wenig. Dem Gehirn mag es zwar gleich sein: Als ob oder in echt. Dem Körper jedoch nicht. Nachdem wir inzwischen viel über Embodiment (Embodiment und Emotion) gelernt haben, mag man hier nachdenklicher werden. Auch wegen einer immer noch weit verbreiteten Verkürzung geistiger Funktionen aufs Gehirn allein (übrigens Treppenwitz: ein Erbe der Aufklärung). „Vermehre die Möglichkeiten,“ sagte weiland Heinz von Foerster. Schauen wir, was die Zukunft bringen wird.

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