INSPIRATION: Eine Tiefeninterviewstudie des Autors Rainer Bäcker (Paradoxe Versprechen) offenbart Verstörendes zum Thema Agilität, genauer: zu agilem Führen und agiler Zusammenarbeit. Die 21 Praktiker liefern Bilder, Assoziationen und Geschichten, die verstören, weil sie vielfältig ambivalent und paradox bleiben:
- Überzeugende Unbestimmtheit: Einerseits fällt ein starker Enthusiasmus für Agilität auf. Andererseits stochert man inhaltlich im Nebel, kann Agilität nicht wirklich erklären, versucht eher verzweifelt und zumeist vergeblich, im Bild gesprochen, einen Pudding an die Wand zu nageln.
- Selbstverwirklichender Selbstverzicht: Freiheit und Selbstverwirklichung werden gepredigt und beschworen, doch mit totalem Anpassungsdruck kombiniert – man muss immer im, mit und für das Team funktionieren.
- Tolerante Diskriminierung: Alle fühlen sich wohl und arbeiten auf Augenhöhe. Doch wertet man zugleich die „alte Welt“ und ihre Bewohner radikal ab oder erklärt sie zum Erziehungsobjekt, so dass die agile Welt als ein Elitenprojekt erscheint – oder als erleuchtete Community.
- Verheißungsvolle Bedrohung: Agil arbeiten macht Spaß und ist quasi eine Freizeitbeschäftigung. Doch unter der Oberfläche lauern Angst und Ernst, lassen sich Wunden und Narben aus brutalen Wettbewerbskämpfen nur mühsam kaschieren. Wenn man mit dem agilen Schnellboot aufs wilde Meer rausfahren muss, wünschen sich etliche Teilnehmer doch wieder den verhassten, dicken alten Tanker zurück.
- Vergessener Kunde: Obwohl agiles Denken den Kunden in den Mittelpunkt stellt, kommt dieser in den Erzählungen der Interviewten gar nicht vor. Stattdessen fällt eine intensive Beschäftigung der Mitarbeiter mit sich selbst und der eigenen Organisation auf.
Die Agilen: eine Sekte?
Die agile Erzählung offenbart zusammengefasst pseudoreligiöse, sektenähnliche Aspekte. Die „Ungläubigen“ werden abgewertet, die eigene Welt wird zum Paradies hochstilisiert.
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Der Autor legt nun den Finger in eine seit Beginn der Diskussion um Agilität schmerzende Wunde: Das Thema Führung. Oft liest man in Veröffentlichungen, dass Führung in der agilen Welt überflüssig wird. Allenfalls weist man ihr die Rolle des Feel-Good-Managements zu. Nach Meinung des Autors wäre beim iterativen Aktionismus aber genau das Gegenteil erforderlich: „Mehr Führung und bessere Führung als in früheren Modellen sind gefragt, damit die Einführung von Agilität in Unternehmen nicht nur ein kurzes Strohfeuer wird.“ Oder mit anderen Worten: „Führung mit ‚Fingerspitzengefühl‘, Geradlinigkeit und Durchhaltevermögen.“ Das Flinke braucht einen beständigen Counterpart. Sonst kann die Sache nicht gelingen.
Man muss den speziellen psychoanalytischen Hintergrund des Autors nicht teilen. Doch offenbart die Studie etliche blinde Flecken der aktuellen Diskussion um Agilität, die in der lesenswerten Veröffentlichung in der Zeitschrift OSC herausgearbeitet werden (Agile (Ver-)Führung). Flankiert von weiteren Beiträgen zum Thema in derselben Ausgabe.
Heilsversprechen einer besseren Welt
Aufhorchen lässt der Hinweis auf den Missionarismus der agilen Bewegung, den man ansonsten von religiösen Sekten, aber auch aus dem kommunistischen Lager kennt. Der Autor zitiert dazu das Kommunistische Manifest von Marx und Engels mit seinem säkularisierten Heilsversprechen einer besseren Welt. Hierzu passt auch der ständige und mit erhobenem Zeigefinger geführte Streit in der agilen Szene um die richtige Auslegung der „reinen Lehre“. Als Beispiel dafür mag ein Beitrag aus der Zeitschrift Organisationsentwicklung herhalten. Die Autorinnen (Wir machen jetzt Dailys) listen neun Irrtümer im agilen Alltag auf:
- Wir sind jetzt agil. Wir machen Dailys: Hier werde ein Ausschnitt mit dem Ganzen verwechselt.
- Wir brauchen keinen Plan. Wir sind agil: Doch ohne Vision fehle die Orientierung.
- Ich entscheide nichts. Auch nicht der Product Owner: So verkomme man zum Spielball anderer.
- Wer zum Teufel hat das verbockt? So lerne man nicht aus Fehlern.
- Unsere Kundenberater*innen wissen am besten, was die Kund*innen wollen: Aber nur, wenn man die Zielgruppe rechtzeitig befrage und einbinde.
- Wir bauen den goldenen Henkel schon im MVP: Doch Minimal Viable Products könnten per definitionem nicht perfekt sein.
- Straffer Zeitplan und knappe Ressourcen: So töte man den Scrum-Geist.
- Selbst mitdenken müssen, stand aber nicht in der User Story: Details auszuarbeiten und Probleme lösen, sei aber die Aufgabe des agilen Teams.
- Ich habe jetzt keine Zeit für die Retro: Wer nicht lernen möchte, lerne nichts hinzu.
Merke: Wenn das gewünschte Ergebnis nicht eintritt, hat man wohl etwas falsch gemacht und muss noch härter arbeiten. Oder um mit den Autorinnen zu sprechen: „Zwar gibt es auch in einer agil organisierten Arbeitswelt hin und wieder Aufgaben, die keinen Spaß machen. Eine Routine, die nicht selten zum Boreout führt, stellt sich dagegen kaum ein, weil verinnerlichte Agilität bedeutet, niemals an einem bestimmten Ziel anzukommen.“ – Schöne neue Arbeitswelt!