26. Juli 2024

Management auf den Punkt gebracht!

„Hier kommt Alex“ (Die Toten Hosen)

INSPIRATION: Es ist schon wieder ruhiger um Virtual Reality geworden. Vielleicht täuscht der Eindruck nur. In spezifischen Bereichen der Wirtschaft scheint VR jedoch öfter genutzt zu werden. Wir sollten da mal genauer hinschauen.

VR-Umgebungen sind nach wie vor für viele Zeitgenossen Neuland (Das neue Universum Teil 2). Autor Michael Heinlein (Kollaboration in virtuellen Arbeitsräumen) scheint einer der wenigen Forscher zu sein, der sich mit der Materie tiefgehender beschäftigt hat. Wenn er uns in VR-Umgebungen führt, hat er die soziologische Brille auf und lässt uns Spannendes sehen.


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VR sind computergenerierte Realitäten. Menschen können dort mit digitalen Objekten und anderen Akteuren in Echtzeit entlang spezifischer Prozesse und Aufgaben interagieren. „Der springende Punkt (…) ist, dass VR die Realität im Sinne einer physisch erfahrbaren Lebenswirklichkeit nicht eins zu eins abbilden kann, zugleich aber selbst eine erfahrbare Wirklichkeit eigener Art darstellt.“ Hier könnte man einwenden, das sei überhaupt nicht neu. Schließlich hat uns die Erfindung des Films schon eine neue Wirklichkeit beschert. Allerdings konnten wir in diese Welt zwar eintauchen, aber dort nichts gestalten. Das ist bei VR anders. Dort spielen wir mit. – Und andere spielen auch mit uns.

Ein neues Spiel

Der Soziologe nimmt eine Perspektive ein, die sich auf das Arbeitshandeln in VR bezieht. Ihn interessiert die Frage, wie dort gehandelt wird. Solches verlangt zwingend, die subjektive Perspektive zu erforschen. Daher hat er Interviews mit Beschäftigten geführt, teilnehmende Beobachtungen unternommen sowie Workshops durchgeführt, um die erhobenen Daten zur validieren. All dies überwiegend in einem ingenieurtechnischen Umfeld.

Eine erste Erkenntnis betrifft den Umstand, dass wir an virtuelle Realitäten nicht unabhängig vom impliziten und expliziten Wissen teilnehmen können. Wir „importieren“ gewohnte Routinen, Strukturen und Normen in die VR-Welt. Dort reproduzieren wir also Hierarchien oder lassen uns von Einstellungen (also auch Vorurteilen) aus dem „echten“ Leben leiten – zumeist unbewusst und unreflektiert. Ein Beispiel: Ein männlicher Mitarbeiter wertet auch in VR eine weibliche Kollegin, die er lediglich als neutralen Avatar wahrnehmen kann, stereotyp ab. Weil er deren Namen lesen kann und ihre Stimme hört. – Frauen haben eben keine Ahnung von Technik … Ist doch klar … ein Fall für die Antidiskriminierungswatsche.

Virtuelle Grenzüberschreitungen

Eine weitere Erkenntnis lässt die Leserin noch mehr aufhorchen: Auch wenn sie vielleicht hunderte Kilometer entfernt in die VR-Umgebung eingetreten ist, als Avatar kollaboriert sie in der VR-Umwelt auch leiblich mit anderen. Man reicht sich beispielsweise Werkzeuge oder irgendwelche Dinge. Man steht nebeneinander. Und das kann man mehr oder weniger nett oder sogar despektierlich tun. Die Userin bringt – wie sollte es auch anders sein – ihre Vorstellungen von sozial legitimen und akzeptierten Abständen zwischen menschlichen Körpern (Stichwort: Nähe-Distanz-Regulation) mit in die virtuelle Kooperation. Solche Regeln können dort aber unterlaufen oder missachtet werden. Man rückt ihr beispielsweise auf die Pelle. Und wenn das auch nur eine virtuelle Pelle sein mag, die Wirkung ist doch sehr real. Es kann zu Grenzüberschreitungen kommen.

Diese mögen manchmal aus Versehen geschehen. Aus dem realen Leben kennen wir „unterschiedliche ‚Reparaturstrategien‘ zur gemeinschaftlichen Wiederherstellung der sozialen Ordnung“ wie Äußerungen des Missfallens, Entschuldigungen, Witzeleien, oder man geht sich sogar bewusst aus dem Weg. Man kann eben auch in VR nicht nicht kommunizieren, um das 1. Kommunikationsaxiom von Watzlawick und Kollegen zu zitieren. „Die Möglichkeit einer erfahrbaren Ko-Präsenz stellt damit zwar ein Alleinstellungsmerkmal von VR dar,“ so Autor Heinlein, „zugleich ist diese Ko-Präsenz aber nicht beliebig gestaltbar, sondern nach spezifischen Mustern sozial und kulturell legitimer körperlich-leiblicher Verhältnisse vorstrukturiert.“

Im wilden Westen der VR?

Andererseits öffnet diese Erkenntnis auch den Blick für (neue) Möglichkeiten des Missbrauchs. Autor Heinlein rechnet mit einer Zunahme von sexueller Belästigung und Gewalt durch eine Popularisierung von VR. Und diese Prophezeiung erscheint mir mehr als plausibel, wenn man sich auch die weiteren technischen Einsatzszenarien anschaut (Und ewig lockt die KI). Denn sind die Kartoffeln da, werden sie auch gegessen, sagt der Volksmund.

Ein weiterer Aspekt betrifft den Umgang mit virtuellen Repräsentationen von Gegenständen in VR. Auch hierbei hängen Alltags- und virtuelle Wirklichkeit zusammen, werden folglich durch implizite Kodierungen beeinflusst. Physische Dinge in VR werden mit Erwartungen assoziiert, die man mit ähnlichen Dingen in der „wirklichen Wirklichkeit“ verbindet: Optik, Haptik, Geruch – oder auch symbolische Bedeutung. Die User ergänzen ihre beschränkten Sinneseindrücke in VR – visueller und auditiver Kanal sind dort in der Regel dominant – mit Erfahrungs- und Erlebnisqualitäten aus anderen Kontexten und formen beides zu einem Gesamtbild. Autor Heinlein bringt das Beispiel, dass VR-Teilnehmende einem Stahlträger Gewicht unterstellen, obwohl dies nicht der Fall sei. Er sei federleicht und zu bewegen. Die User umgehen ihn auch im virtuellen Feld, obwohl sie durch ihn durchgehen könnten. – An solche Superkräfte muss man sich erst einmal gewöhnen.

Die Physik aushebeln, die Psychologie aber nicht

Der Autor fasst seine Erkenntnisse so zusammen: „Die Kollaboration in virtuellen Räumen kann daher mit Blick auf ihre Anforderungen als eine Arbeitsform sui generis gesehen werden, die eigenständige Strukturen wechselseitig miteinander verschränkter Wahrnehmungen und Handlungen der kollaborativ tätigen Nutzenden aufweist.“ Man muss also „kollektiv gültige Interpretationen und Interpretationsweisen“ reflektieren und verhandeln. Oder noch einmal anders ausgedrückt: „Virtuelle Räume als Ersatz für die Alltagswirklichkeit zu denken, ist somit irreführend: Beide stellen füreinander unter jeweils konkreten Bedingungen nutzbar zu machende Erweiterungen dar.“

Die Gestaltung von VR-Szenarien zu Kollaborationszwecken in Organisationen stellt somit keine triviale Angelegenheit dar. Da fühlt man sich doch an das Thema soziotechnische Systemgestaltung erinnert. Schade, dass der Autor diesen Aspekt nicht ausführt. Der Vollständigkeit halber sei jedoch erwähnt, dass es fantastische neue Möglichkeiten in VR gibt wie die Möglichkeit, die Zeit einzufrieren. Man kann beispielsweise Abläufe und Prozesse beliebig wiederholen und iterativ verändern. Es ist möglich, Risiken auszuschalten, weil man gefährliche Situationen gefahrlos trainieren kann. Zudem kann man ressourcenneutral explorieren. Oder Positionen, Rollen und Aufgaben in einem Arbeitsprozess tauschen. Es lassen sich Kompetenzen in digitalen Räumen für die analoge Arbeit erwerben.

All das zeigt, dass Organisationen zumeist den Umgang mit VR erst noch lernen müssen. Und dass dies viele Diskussionen über „Risiken und Nebenwirkungen“ verlangen dürfte. Auch um eine bewusste Rahmensetzung wird man nicht herum kommen. Denn die technischen Möglichkeiten erweitern sich kontinuierlich. Und die Preise für solche Anwendungen fallen. Wie sagt man so schön: Gekommen, um zu bleiben.

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