KRITIK: Wenn von Personalentwicklung, „Potentials“ oder gar von „High Potentials“ die Rede ist, dann sind damit meist angehende Führungskräfte gemeint – Mitarbeiter, die das Zeug zu „Höherem“ besitzen. Tatsächlich gibt es bei Bertelsmann „neue Talentinitiativen“ zur Unterstützung von Experten (Ganz schön gemausert).
Die Geschichte stellt sich so dar: Zunächst hatte man sich auf Mitarbeiter mit „herausragenden Leistungen und vertikalem Potenzial“ konzentriert. Wie man das kennt: Jemand musste nicht nur gut in seinem Job sein, sondern man musste ihm auch zutrauen, noch anspruchsvollere Aufgaben in höheren Positionen zu übernehmen – die klassische Talentmanagement-Vorgehensweise.
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Jetzt aber nimmt man jene ins Visier, die „an fachlicher und persönlicher Weiterentwicklung interessiert sind“. Dazu kommt noch, dass ein „agiler Employee-Experience-Design-Prozess gestartet“. Mir ist nicht ganz klar, ob das bedeutet, man hat Mitarbeiter bei der Entwicklung der Talentmanagementprogramme eingebunden? Oder ob damit gemeint ist, dass man bei Bertelsmann agile Arbeitsweisen eingeführt hat? Vermutlich letzteres.
Talentmanagement
Immerhin: Man hat erkannt, dass es Mitarbeiter gibt, die in ihrem Fachgebiet richtig gut sind, selbst Verantwortung übernehmen wollen, gerne mehr gefragt, eingebunden, gewertschätzt und vielleicht auch besser bezahlt werden möchten, die aber keine Führungspositionen übernehmen wollen. Und da letztere in agilen Strukturen seltener werden, muss man sich was einfallen lassen.
Also hat man erst einmal 50 Interviews mit solchen Fachleuten geführt und sie „nach ihren Motiven und Wünschen befragt.“ Mit dem Ergebnis, dass es zwei Gruppen von Experten gibt, denen dann unterschiedliche Angebote gemacht werden. Da gibt es die Fachleute, die
- sich besonders für ein Thema interessieren, darin aufgehen und ihr Wissen weiter vertiefen möchten, so dass sie in der Lage sind, Entscheidungen mit vorzubereiten,
- sich mehr selbst in Entscheidungsprozesse einbringen möchten und den Wunsch nach viel Entscheidungsfreiheit haben.
Dann hat man die unterschiedlichen Wünsche in einem Workshop bearbeitet und visualisiert, danach in einem „Design-Sprint“ ein Portfolio an Maßnahmen entwickelt.
Maßnahmen
- Ein Tool zur Selbstreflexion – also ein Online-Tool mit einem Persönlichkeitsfragebogen für Menschen, die über ihre berufliche Orientierung nachdenken möchten, ohne einen Coach dafür in Anspruch zu nehmen. Um die Kosten für Coachs zu sparen?
- Kollegen-Campus – Fachleute reichen ihre Themen ein und stellen diese in Live-Sessions ihren Kollegen vor.
- Knowledge-Lab: Die Experten-Talente arbeiten in fachlich übergreifenden Teams an Fragestellungen zusammen, die nicht unbedingt zu ihrem Spezialgebiet gehören. Das gab es wohl schon vorher, aber da wurden die Teilnehmer nominiert. Jetzt können sie sich selbst melden. Das ist revolutionär …
- Exchance Initiative: Die alte Idee der Hospitation – Interessenten können für mindestens zwei Wochen und maximal drei Monate in einem anderen Bereich des Konzern tätig sein.
- Mentoring – das bestehende Programm wurde jetzt auch für Experten geöffnet.
Es soll noch weitere kleine Aktivitäten geben, um Experten zu fördern. All das kann man sicher nur begrüßen, denn es weitet endlich den Talentbegriff. Man hätte nur gerne erfahren, wie häufig diese genannten Angebote genutzt werden …
Außerdem fragt sich der Leser, was denn all die anderen Mitarbeiter sind – Menschen, die weder führen können noch über Fachwissen verfügen? Irgendwie seltsam. Wie sähe es wohl aus, wenn ein Unternehmen allen Mitarbeitern die Möglichkeit böte, sich fachlich und persönlich weiter zu entwickeln? Klar, dann wäre der Talentbegriff überflüssig oder jeder wäre ein Talent. Mein Lieblingsthema: Warum nicht letzteres? Jeden Menschen als „Talentträger“ zu betrachten und niemanden als „Talent“ zu bezeichnen?