KRITIK: Analytics als Begriff findet man inzwischen in allen möglichen Kombinationen, warum dann nicht auch in Verbindung mit Lernen? Die Idee: Wir lernen mit Hilfe digitaler Medien. Unser Lernfortschritt wird automatisch erfasst und liefert uns (und dem „Veranstalter“) hilfreiche Informationen. Ein echter Fortschritt?
Man kann sich das ungefähr so vorstellen: Jeder Lernende erhält, anders als im Seminar oder im Hörsaal, genau die Lerninhalte angeboten, die zu seinem Lernstand passen. Dazu muss dieser natürlich erst mal erfasst werden. Was für den Algorithmus natürlich kein Problem ist. Er erkennt ja, was der Lernende bearbeitet, wie schnell er voranschreitet, welche Aufgaben er fehlerfrei bearbeitet und wo es noch holprig läuft. Vielleicht ist das mit dem automatisierten Lernen noch nicht ganz so weit und im Moment werden nur zwischendurch Multiple Choice Tests durchgeführt. Aber irgendwann ist die Maschine schlau genug.
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Welche Folgen das hätte?
Da gibt es zwei „prominente Ansätze“ (Die Vermessung des Lernens): Aus den vielen Daten, die die Lernroboter erheben, können sie vorhersagen, ob jemand den aktuellen Kurs abbrechen wird (Drop-out). Und sie können das Abschlussresultat prognostizieren. Ersteres geht jetzt schon mit einer Prognose-Genauigkeit von 85% bereits nach 20 bis 50% bearbeiteter Inhalte.
Die Chance, die darin liegt: Man kann frühzeitig gegensteuern und gezielt intervenieren. Klingt gut. Aber irgendwie ist das doch auch die Idee eines Lehrers oder Trainers, oder? Diese schauen sich auch den individuellen Lernfortschritt an und können früh vorhersagen, ob jemand durchhalten und wie er wohl am Ende abschneiden wird. Nur eben nicht schön visualisiert mit Hilfe eines „Dashboards“ mit bunten Grafiken.
Aber Ironie beiseite: Es stecken ja schon einige Chancen in solchen Tools. Ich stelle mir mal vor, ich lerne Klavierspielen. Das, was ich da produziere, lässt sich ja inzwischen problemlos digitalisieren und sicher auch auswerten. Dann kann ich mir nach jeder Übungsrunde auf meinem Dashboard anschauen, ob ich mich verbessert habe, in welchem Ausmaß und wo es keine Fortschritte gab. Dann bekomme ich sofort vom System Tipps, welche Stellen ich wie oft wiederholen muss, um das gesteckte Lernziel zu erreichen.
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Learning Analystics zeigt mir auch, wo andere Lerner mit ähnlich vielen Übungseinheiten stehen. Und wie weit ich noch von einer meisterhaften Leistung entfernt bin. Klingt doch auch sinnvoll – zumindest für diejenigen, die wettbewerbsmotiviert sind. Der Rest der Menschheit könnte daran schnell verzweifeln, wenn er feststellt, dass er doppelt so viel Zeit wie die „Mitschüler“ benötigt und dann noch schneller aufgeben. Weil, wie ihm sein Dashboard ja anzeigt, dass er offenbar nicht mit sonderlich viel Talent gesegnet ist. Aber vielleicht ist die Lernsoftware ja schlau genug, ihm ab einem bestimmten Level solche Daten lieber nicht anzuzeigen. Weil sie bereits erkannt hat, zu welchem Lerntyp er gehört und deshalb durch diese Vergleiche Gefahr läuft, abzuspringen.
Vergleicht man das mit einem Lehrer, so wäre das, als würde ihm dieser am Ende einer Stunde mitteilen: „Du hast heute nur geringe Fortschritte erzielt. Deine Mitschüler haben sich mit dem gleichen Aufwand bereits drei Stufen weiter entwickelt.“ Nur entscheidet in Zukunft nicht ein Mensch darüber, ob ein Schüler solche Informationen bekommt, sondern ein Algorithmus. Wobei mir sofort einfällt: Ich kann mir ja dann selbst überlegen, ob ich das überhaupt wissen will. So wie ich mich entschieden habe, die App, die mir meine Fortschritte beim Joggen anzeigt, wieder zu deinstallieren, weil mir das den Spaß gründlich verdorben hat.
Die Sache ist höchst komplex
Je länger man sich mit diesen digitalen Lernunterstützern beschäftigt, um so klarer wird: Dass die Sache höchst komplex ist. Und die „Nebenwirkungen“ noch längst nicht bekannt sind. Das gilt übrigens auch für ein weiteres Merkmal des „datengestützten Lernens“. Angeblich lassen sich aus dem Interaktionsverhalten in den Online-Kursen auch Rückschlüsse auf die Persönlichkeit und kulturelle Ausprägungen ziehen. Was ja jetzt auch keine Überraschung darstellt. Wenn man Lernende beoachtet, wird man auch ziemlich gut vorhersagen können, welche Inhalte ihnen mehr oder weniger Schwierigkeiten bereiten. Ob sie eher gewissenhaft oder sprunghaft sind, eher viele Anleitungen benötigen oder lieber sich die Aufgaben selbst erschließen wollen. Mit der Konsequenz, dass die Programme noch weiter personalisiert werden können und jeder genau so lernen kann und darf, wie es zu seinem vertrauten Muster passt.
Da fragt sich dann der Leser, ob Personalisierung tatsächlich so wünschenswert ist – ähnlich den Empfehlungen in einem Online-Shop, die mir nur noch das anbieten, was zu meinem bisherigen Kaufverhalten passt …