KRITIK: Führungskräfte, die ihr Team in die Selbstorganisation entlassen möchten oder müssen, reagieren verunsichert. Einige sind erleichtert, denn damit wird ihnen so manche Last von den Schultern genommen. Andere geraten in eine Identitätskrise: Was bleibt ihnen noch, wenn ihr Team die Dinge selbst in die Hand nimmt? In der Wirtschaftspsychologie aktuell beschreibt Sonja Diekmann aus eigener Erfahrung, welche Phasen sie durchlaufen hat und leitet daraus ein Modell ab, an dem sich Betroffene orientieren können (Servant Leadership).
- Initialisierungsphase: Selbstorganisation entsteht nicht aus dem Team heraus. Am Anfang agiert die Führungskraft als Sponsor, Change Agent und Manager. Sie nutzt die eigene Position, um für Klarheit, strategische Ziele und Struktur zu sorgen. Zum Beispiel, indem sie tägliche Teambesprechungen mit einer Standardagenda durchführt, für Transparenz sorgt, indem sie Kennzahlen veröffentlicht und erläutert, mit dem Team Kernaufgaben definiert, Rollen zuordnet und Teamregeln aufstellt.
- Transaktionsphase: Die Führungskraft agiert jetzt als Prozessbegleiter, sie achtet darauf, dass Strukturen eingehalten werden, fördert die gemeinsam Reflexion und fungiert als Vorbild (indem sie sich selbst in den Putzplan einträgt und die Aufgabe auch übernimmt).
- Optimierungsphase: Hier beginnt der Übergang zur Routine. Die Führungskraft agiert jetzt als Teamentwickler, sie lässt einzelne Themen los, beobachtet, wie kommuniziert wird, wie mit Konflikten umgegangen wird, teilt ihre Beobachtungen mit und regt Teamreflexion und Feedback an.
- Selbstorganisation: Das Team hat die Verantwortung übernommen, hält regelmäßige Retrospektiven ab, die Strukturen werden ständig angepasst. Die Führungskraft ist Teil des Teams und übernimmt die vereinbarte Rolle. Sie vertritt z.B. das Team gegenüber dem Management und behält die Verantwortung für die Zielerreichung. Sie agiert als „Servant Leader“, als Coach, Mentor, Feedbackgeber und Sparringspartner.
Was ist die Rolle einer Führungskraft?
Wichtig ist, dass eine Führungskraft ihre eigene Rolle intensiv reflektiert. Sie fragt sich, warum sie eigentlich Führungskraft geworden ist, ob die neue Rolle überhaupt zu ihr passt und ob sie damit klarkommt, dass sie die finale Entscheidungsgewalt verliert, denn diese liegt jetzt beim Team. Dafür kann sie sich jetzt um Themen kümmern, die ihr wirklich wichtig sind.
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Was mich an diesem und ähnlichen Modellen irritiert: Die Verantwortung für die Zielerreichung liegt also weiterhin bei der Führungskraft. Und sie vertritt die Ergebnisse und Entscheidungen gegenüber dem Management. Letzteres mag funktionieren, wenn sie die richtige Person für diese Aufgabe ist. Aber das ist keineswegs „normal“ – was, wenn das Team jemand anderen für deutlich besser geeignet hält? Zumal diese Funktion vom Status her natürlich eine besondere ist und der Führungskraft weiterhin den Zugang zu den wesentlichen Informationen ermöglicht.
Und Verantwortung für die Zielerreichung? Wie soll das funktionieren, ohne die „finale Entscheidungsgewalt“? Warum sollte jemand die „Entscheidungsgewalt“ abgeben, der sich anschließend für die Ergebnisse beim Management „verantworten“ muss? Damit bleibt doch alles beim Alten, das Team wird in kritischen Situationen auf den Chef schauen und sagen: „Du kennst unsere Meinung, aber entscheide du, schließlich bist du verantwortlich für das Ergebnis!“
Mal ganz schlicht gefragt: Was passiert wohl, wenn die Führungskraft ausfällt (wie in dem Beispiel), und niemand kommt und sagt: „Dann führe ich euch mal in die Selbstorganisation.“ Vermutlich bricht Chaos aus, das Team zerfällt und jeder will Chef werden. Oder vielleicht doch nicht …