KRITIK: Dieser Beitrag (Wie digital wird Führung?) ist provokant, was gut ist. Aber leider undifferenziert, was schlecht ist. Gut ist, dass der Beitrag über Folgen der Digitalisierung für Führung sensibilisiert. Denn in der Pandemie haben viele Führungskräfte erstmalig erlebt, dass man auch online führen kann. So startet der Autor, seines Zeichens u.a. Professor of Leadership and Organizational Behavior an der Kühne Logistics University in Hamburg, seine Argumentation. Leider geht er gar nicht auf die zahlreichen Führungshavarien ein, die Zoom und Co. gezeitigt haben, und die inzwischen vielfältig beschrieben wurden (Führen auf Distanz), sondern unterstellt allgemein das Gelingen, indem er fragt: „Könnte es sein, dass sich Digital Leadership in Zukunft ebenso rasant – oder vielleicht noch viel rasanter – weiterentwickeln wird? Mit Implikationen, die wir uns heute kaum vorstellen können?“ Als ob es das als Best Practice schon gäbe, gibt es aber noch gar nicht (Das Schlechteste aus beiden Welten?).
Für Autor Van Quaquebeke scheint das allerdings schon eine ausgemachte Sache zu sein: „Denn alles, was ein Wettbewerbsvorteil sein kann, wird in unserer kompetitiven Welt irgendwann auch als ein solcher genutzt werden. Und das Digitale ist ein solcher Wettbewerbsvorteil. Weil es häufig schneller, kostengünstiger, einfacher und besser kontrollierbar ist als sein analoges Pendant.“ Tief durchatmen! Führungshavarien scheint er nicht zu kennen. Was versteht er denn unter Führung, was unter Digital Leadership, wenn er der Ansicht ist, „dass Maschinen durchaus Leadership übernehmen können“? Offensichtlich nur transaktionale Führung, command and control. Der Mensch wird demnächst von einer Maschine, einem Algorithmus, einer Künstlichen Intelligenz ersetzt. Starker Tobak! Wir sind beim Digitalen Taylorismus angekommen (Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt). Mir graust es!
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Argumentationsrodeo
Ok, der Autor federt seine Ausführung ein wenig ab, baut Schleifen ein, zwei Schritte vor und einen zurück, bleibt Definitionen schuldig, relativiert, trickst, bleibt nebulös … Die Führung wird nicht ganz abgeschafft, schließlich gibt es ja noch Verantwortung, Datenschutz und Ethik – erwähnt er eher am Rande. „Wenn KI menschliche Führung ersetzt, muss das also bei Weitem nicht so apokalyptisch sein, wie man es sich vorstellt.“ Und er kokettiert ein wenig mit der schönen neuen Welt (Aldous Huxley). Die Technik wird zum Führungsassistenten: Klingt das nicht irgendwie harmlos? Ich sehe Chefs mit dem Taschenrechner vor mir oder mit der Stoppuhr, alles schöne Algorithmen. Doch wo schlägt es um vom Boss, der per Video seine Fabrik überwacht und den Takt beschleunigt (Charlie Chaplin: Modern Times) zu einer KI, die irgendetwas macht, von dem niemand mehr weiß, warum sie es macht? Die auch kein Bewusstsein hat, Moral sowieso nicht. Wo es bedenklich wird …
„Die Führungskraft (…) erhält von ihrem Assistenten, der Software (die permanent Gesichtsausdrücke, Körperhaltungen, Tonlagen und so weiter auswertet), nebenbei auch Hinweise wie diesen: „Thomas verliert gerade das Interesse.“ Was für eine Frechheit! Stimmt doch gar nicht! Im Gegenteil, ich beginne mich gerade richtig aufzuregen: Was maßt sich eine solche Maschine an? Und wie dumm muss eine Führungskraft sein, dieser naiv zu glauben?
Provokationen
Ich weiß, es gibt solche Technologien und Menschen, die sich auf sie verlassen, und Autor Van Quaquebeke weiß das auch. Und er weiß auch, dass man diese nicht ungefragt einsetzen darf, weil man sonst in Teufels Küche kommt. Er verweist lapidar auf „datenschutzrechtliche Gründe“ – ohne da einmal, was mehr als angemessen wäre, tiefer einzusteigen. Ach so, spinnt ein Teil meines Gehirns beim Lesen da weiter, das sind diese spinnerten Juristen, die nicht von dieser Welt sind, völlig überzogen, das interessiert doch niemanden. Doch der Autor zündelt weiter: „Optionen wie diese werden in der Praxis zunehmend verfügbar sein.“ Ein anderer Teil meines Gehirns sucht derweil nach dem Feuerlöscher, denn jetzt droht es echt ungemütlich zu werden: Hier spielt jemand mit dem Feuer! Der Kollege Martin Kersting hat das Thema KI und Führung zuletzt auch zugespitzt, doch dann laut krachend vor die Wand gefahren, so dass es alle hören mussten (Ein Herz aus Bits und Bytes?).
Nicht so Van Quaquebeke. Er bringt das Argument, in den USA würden viele Richter:innen von Algorithmen die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls von Straftätern in der Praxis berechnen lassen. Na toll, erstens: USA. Zweitens: Das haben sie vorher mit Bauchgefühl oder der Befragung von Sachverständigen gemacht. Drittens: Wir reden über Wahrscheinlichkeiten. All das diskutiert der Autor nicht, was ich von einem Wissenschaftler erwarten würde, sondern holt stattdessen die moralische Keule raus: Wer will damit leben, wenn dann doch etwas passiert, wenn man den Rat des Algorithmus verschmäht? Das ist in meinen Augen Killerphrasenniveau.
Schließlich legt der Autor noch eine Schüppe drauf: Auch Innovation und Strategie können angeblich KI. Soll ich lachen oder weinen? Formen höherer Ordnung (Emergenz) bekommt man doch nicht mit dem Maschinenmodell produziert. Selbst die Psychotherapie, so der Autor, bekäme Konkurrenz von der KI: „Und manche Therapieprogramme sind mittlerweile so gut, dass man kaum wahrnimmt, dass hier eine Maschine am Werk ist.“ Die Betonung liegt hier auf „manche“ und nicht gesagt wird, dass das irrelevant ist, weil die Verantwortung weiterhin beim Therapeuten liegt. Was ist das für eine oberflächliche und tendenziöse Argumentation?
Coaching als Führungstätigkeit
Und es geht noch schlimmer. So wird auch Coaching unter der Hand zur Führungstätigkeit definiert. „Eine Maschine agiert zuweilen sogar menschlicher als der Mensch“, will uns der Autor weis machen – wenn auch relativierend nur „zuweilen“. Es mag einige „herausragende Leadership-Persönlichkeiten“ geben, doch „sind die meisten menschlichen Führungskräfte so?“ – meiner Leserschaft ist schon klar, was sie gerade denkt? Der Professor lässt uns gerade einem Trugschluss aufsitzen: „Gegen sie könnte eine Maschine, die ihr Gegenüber in allen Einzelheiten wahrnimmt und dementsprechend auf es eingehen kann, durchaus im Vorteil sein.“ Ach so: Ad 1: Konjunktiv … Ad 2: Bislang soll solches nur einer geschafft haben: „Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Taube hören, Tote stehen auf und …“ (Lukas 7,22).
Der Autor skandalisiert. Er bedient sich in der Argumentation halbseidener Methoden. Nur Lösungen, die der Sache angemessen wären, liefert er keine. Ziemlich enttäuschend. Wie soll das Fazit lauten zum Schluss: Ich liebe den großen Bruder?