INSPIRATION: Wie sieht die Welt des Change-Managements aus, wenn man sie durch die Brille einer Neurowissenschaftlerin sieht? Fremd? Oder anregend? Das kommt wohl drauf an, wie offen und selbstkritisch die Beratenden und ihre Kundschaft sind.
Die Welt des Change-Managements, so stellte vor über zehn Jahren schon Joachim Freimuth fest (Pragmatismus der reflektierten Art), ist durch Pragmatismus und jede Menge Beraterlatein geprägt. Nach dem Motto, der liebe Gott erhalte mir meine Vorurteile, hat sich da meines Erachtens nicht grundlegend viel dran geändert. Wenn Freimuth auch zehn Jahre später zu einem etwas gnädigeren Fazit kommt (Fröhlich auf der Schussfahrt wenden).
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Seit mehr als 20 Jahren berate und begleite ich Mitarbeitende und Führungskräfte in Non-Profit-Organisationen, sozialen Einrichtungen, Vereinen und Verbänden bei individuellen oder strukturellen Entwicklungs- und Veränderungsprozessen. Zur Webseite...
Jetzt wartet auf die Profession der OE-Beratenden mit der Veröffentlichung von Katharina Möller und Alica Ryba (Stress und das Gehirn) eine gehörige Portion Theorie. Ryba hat ja schon die Coaching-Welt verunsichert (Neurowissenschaftliche Fundierung von Coaching). Meine Wahrnehmung allerdings ist, dass sich nur ein kleiner Teil der Szene wirklich der (nötigen) Herausforderung seitdem stellt. Und in der OE-Community wird es meiner Vermutung nach ähnlich sein.
Das menschliche Gehirn mag keine Veränderung
Womit wir schon beim Thema wären … „Das menschliche Gehirn mag keine Veränderung.“ Auch (oder erst recht) keinen „Change“! Das schwante mir schon in den 1980er-Jahren, als ich diesen Werbe-Jingle hörte (Du darfst!). Einige Jahre später verstieg ich mich dazu, „Ich will so bleiben wie ich bin“ zum „Zweiten Hauptsatz des Change-Managements“ zu erklären. Aber sagen wir es mal bescheidener, die Wissenschaft war schneller und nennt den Effekt schon lange den Status-quo-Bias.
Was wir im Beitrag von Möller und Ryba erfahren, ist die neurowissenschaftliche Erklärung dafür. Und die Damen legen noch einen obendrauf: Unsere Gehirne sind die meiste Zeit eh per Autopilot unterwegs. Weil das energieeffizient fürs Gehirn ist. Wir lieben also Gewohnheiten und Routinen. Und meiden Übergangssituationen und Veränderung. Denn diese stürzen uns in Unsicherheit, fürs Gehirn wird’s dann anstrengend: Es muss denken!
Wobei das nicht nur kognitiv, sondern auch emotional impliziert. „Das Auftreten innerer Widerstände bei Mitarbeitenden ist bei einem organisationalen Veränderungsprozess daher ganz natürlich.“ Die vom „Maschinenmodell“ der Veränderung infizierten Change-Manager raten angesichts dessen dazu, den Widerstand zu bekämpfen, ihn gar zu brechen (Grober Unfug). Die systemisch inspirierten Berater:innen hingegen freuen sich nach dem Motto – das System lebt, nur tote Fische schwimmen mit dem Strom. Für sie gilt es daher, mit dem Widerstand konstruktiv zu arbeiten.
4-Ebenen Modell des Gehirns
Die Neurowissenschaft unterscheidet „drei unterschiedliche funktionale Ebenen des limbischen Systems sowie eine vierte, kognitiv-kommunikative Ebene der Großhirnrinde“. Die beiden unteren limbischen Ebenen sind komplett unbewusst. Da liegen die unbewussten Grundlagen der Persönlichkeit verborgen. Die limbischen Areale der Großhirnrinde sind teilweise bewusst und der Neocortex ist zumeist bewusst. Bei ihm handelt es sich, wie der letztens verstorbene Altmeister Gerhard Roth einmal an anderer Stelle sagte, um den „Pressesprecher“ des limbischen Systems. Dieser muss erklären, was woanders (in den tieferen Ebenen) entschieden wurde.
Zudem lassen sich im Gehirn „sechs psychoneurale Grundsysteme identifizieren, die unsere individuelle Persönlichkeit entscheidend prägen“. Das sind das Stressverarbeitungssystem, das interne Beruhigungssystem, das Motivationssystem, das Bindungssystem, das Impulshemmungssystem sowie der Realitätssinn und die Risikowahrnehmung. Die Autorinnen fokussieren nun insbesondere auf die Systeme: Stressverarbeitung, Selbstberuhigung, Bindung und Motivation.
Stress durch Change
Wenn eine Veränderung kommt, scannt das Gehirn erst einmal die Lage: droht Gefahr? Es wird in den Bereitschaftsmodus versetzt und gerät in „Stress“. Das ist völlig ok und funktional. Nach einiger Zeit reguliert sich das Gehirn wieder herunter (Beruhigung).
Halten solche Übergangs- und Stresssituationen aber lange an, versagt das Beruhigungssystem als Antagonist. Das hat beträchtliche Konsequenzen: Leistungsabfall, Konzentrationsschwierigkeiten, Vergesslichkeit, Überreiztheit und Kopfschmerzen. Man wird anfälliger für Erkrankungen, vermehrt tritt Ängstlichkeit auf und es droht letztlich die Gefahr eines Burnouts. „Die Beeinträchtigungen der kognitiven Leistung und Gesundheit können sich negativ auf die Produktivität von Mitarbeitenden auswirken – gerade in dem Moment des Veränderungsprozesses, in dem produktive, belastbare und kreative Mitarbeitende besonders wichtig sind.“
Noch ein Effekt tritt auf: Den gestressten Mitarbeitenden fallen rationale Entscheidungen schwerer. Sie reagieren eher emotional – auch im Miteinander, deshalb kommt es häufiger zu Konflikten. Unbewusste Motivationen, die früher in solchen Situationen (scheinbar) hilfreich waren, kommen ins Spiel. Auch ein vermehrt belohnungssuchendes Verhalten kommt zum Zuge. Was ablenkend und dysfunktional wirken kann.
Da das Bindungssystem das Stresssystem hemmt und zusätzlich das Beruhigungssystem aktiviert, könnte es aversive Reaktionen unterbinden und das Verständnis und Mitgefühl fördern. Wenn nun aber zugleich Veränderungen in Teamkonstellationen stattfinden, tritt das Gegenteil ein: Mitarbeitende erleben „sozialen Schmerz“ durch Zurückweisungen oder fehlende soziale Unterstützung. Die perfekte Katastrophe durch gegenseitiges Aufschaukeln kann sich dann anbahnen.
Was tun?
Grundsätzlich gilt es, Unsicherheit zu minimieren sowie die Motivation für Veränderung zu stärken. Die Autorinnen geben neun Tipps: Von Bewusstsein schaffen, über Veränderung in Maßen gestalten, Transparenz, Fokus bis Beziehungsebene pflegen und „Das Belohnungssystem aktivieren“ reicht die Palette. Natürlich spielt bei all dem die Kommunikation eine herausragende Rolle. Sie sollte klar und – auch emotional – achtsam sein.
Mir fehlt nun die Umsetzung dieser Erkenntnisse in Change-Architekturen, -Designs und die konkrete Methodenauswahl. Solches bleiben die Autorinnen Möller und Ryba schuldig. Ebenso hätten man die Erkenntnisse an den verschiedenen Beratungsschulen durchdeklinieren können (Pragmatismus der reflektierten Art).
Dass die Hauruckmethoden der Maschinenmodell-Fraktion – auch Kotter & Co. mit „Urgency!“ – sich an den neurowissenschaftlichen Erkenntnissen arg reiben, sollte offensichtlich sein. Spannend wäre die Analyse der sogenannten Organisationsentwicklung (70er/80er Jahre) und der anschließenden systemischen Beratung: Ob und inwieweit die Handlungsempfehlungen der Autorinnen darin schon ihren Niederschlag finden oder an welchen Stellen sich ein Überdenken und Anpassen lohnen würde. Klingt das wie eine Klausuraufgabe für meine Master-Studierenden? Aber das eigene Beratungsverständnis auf die neurowissenschaftlichen Anforderungen abzuklopfen, könnte ja auch Praktiker/innen interessieren.