KRITIK: Es wäre zum Lachen, wenn es nicht so traurig wäre. Nach wie vor schürfen die Personalentwickler nach den Talenten unter den Mitarbeitern. Und was sie alles unternehmen, um sie aufzuspüren, das ist schon abenteuerlich. Zwei Beispiele, gefunden in der Wirtschaftspsychologie aktuell.
Der ADAC hat die dialogorientierten Methoden entdeckt und will weg von „IT-gestützten Eingabesystemen“. Weil man festgestellt hat, dass man zu viel Zeit für das Verwalten der Systeme braucht und diese besser in Gespräche steckt (Digitalisierung ist nicht alles). Das ist an sich schon mal eine bemerkenswerte Erkenntnis. Außerdem hatte man mit 15 Kompetenzfeldern den Bogen wohl auch überspannt und sie wieder auf neun reduziert – plus einem offenen Feld, in dem nun auch die Gesamteindrücke der Person festgehalten werden dürfen.
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Mir fehlen die Worte – hatten wir doch alles vor 25 Jahren schon, bevor die elektronischen Talentsuchmaschinen auf den Markt kamen. Aber es wird noch besser. Das klassische Mitarbeitergespräch wird „durch einen laufenden Feedbackprozess ersetzt“. Es soll auch nicht bewertet werden (obwohl hinter dem Modell Werte liegen). Es soll kein Schubladenken erfolgen, aber die Führungskräfte sollen die Talente in eine Matrix einsortieren, bestehend aus den vier Talentfeldern Neueinsteiger, Fortschreiter (die sich weiter entwickeln wollen im eigenen Bereich), Davonläufer (die unternehmensübergreifend weiterentwickelt werden) und Bewahrer (die dort gut aufgehoben sind, wo sie sind). Natürlich sollen alle gefördert werden.
Ich finde die Einteilung gar nicht so schlecht, besser als solche furchtbaren Cluster wie „Minderleister“, „Stars“, „Potentials“ etc. Aber wer jetzt glaubt, damit würden alle Mitarbeiter gemeint, der irrt. Die Rede ist von zehn Prozent der Mitarbeiter, die als Talente gelten. Er stirbt nicht aus, der Begriff, oder? Was sind dann alle anderen? Sitzenbleiber? Hier fällt der Begriff der „nicht nominierten Talente“, deren „Regelförderung“ naturgemäß weniger umfangreich ausfällt. Naturgemäß??
Noch seltsamer mutet das Vorgehen bei SMA Solar Technology an (Talentmanagement – Auswahl ohne Verlierer). Dort wollte man einen Pool von Talenten mit 20 Teilnehmern aufbauen – den alten Goldfischteich. Und das, ohne Verlierer zu erzeugen, denn die anderen sollen ja auch weiter motiviert bei der Sache sein. Die Führungskräfte nominierten also nach sieben Potenzialkriterien und der Leistungsbeurteilung Mitarbeiter für das Talentprogramm. Offenbar wurde auch eine Maximal-Zahl an Talenten je Bereich festgelegt.
Und weil man ja Führungskräften nicht zutraut, Talente zu erkennen, braucht man einen erfahrenen externen Anbieter von Assessment Centern. Dieser führte die entsprechende Maßnahme durch, und jetzt kommt’s: Man legte vorher einen Punktwert fest, einen Mindestwert, den die Kandidaten überschreiten mussten, um in den Goldfischteich aufgenommen zu werden. Wobei ich diesen Satz seltsam finde: „Dieser Mindestwert wurde empirisch nach Vorliegen aller Ergebnisse festgelegt.“ Gemeint sind vermutlich die Ergebnisse der Meldungen durch die Führungskräfte. Empirisch klingt immer toll – woher wusste man denn, wo die Hürde für Talent liegt?
Das führte dazu, dass es zu einer „unerwartet hohen Ausfallquote“ kam und man den Pool von 20 Kandidaten nicht füllen konnte – zu wenige Kandidaten erreichten den Mindestwert. So viel zum Thema Grenzwerte empirisch festlegen. Und nun? Man staune: Es kam zu einer „Nachnominierung über einen angepassten Auswahlprozess„, wobei die Entscheidung bei den Executive Vice Presidents ohne formalen Prozess lag. Das gesamte Vorgehen wird hier als klares Zeichen für einen fairen und transparenten Prozess bezeichnet.
Und was passierte mit jenen, die außen vor blieben? Für sie bedeutete die Ablehnung „einen bitteren und vielfach unerwarteten Rückschlag„. Damit sie aber auch etwas davon hatten, erhielten sie von den externen Beratern ein halbtägiges intensiv-Coaching, in dem sie sich Klarheit über ihre Karriereziele verschaffen konnten. So waren am Ende alle glücklich – inklusive Berater vermutlich. Auswahl ohne Verlierer lautet ja auch der Titel des Beitrags.
Übrigens: Woher kommt eigentlich die Zahl 10 Prozent? Ich verstehe nicht, was Personalentwickler meinen, wenn sie von X Prozent Talenten sprechen. Mehr noch: Ein Vertreter von Gallup erklärt im Interview im Handelsblatt („Es mangelt an Selbstreflexion„): „Gerade mal jeder zehnte Mensch weltweit besitzt Führungstalent, ein weiteres Fünftel hat Entwicklungspotenzial.“ Mal abgesehen von der seltsamen Auffassung der Begriffe – Talent hat der, der schon führen kann, Entwicklungspotenzial der, der es irgendwann mal kann?? – wo kommt diese Zahl denn her?
Das wäre so, als behaupte man, nur 10 Prozent der Menschen weltweit hätten Talent zum Musizieren. Und Führung ist deutlich komplexer. Wenn dann Personalentwickler von einer Quote von 10 Prozent Talente im Unternehmen reden – was meinen sie wohl damit? Menschen, die überhaupt zu irgendetwas Talent haben?